"Two Thousand Yard Stare": das Porträt eines Traumas

Der Blick ist der Spiegel der Seele, der in manchen Fällen ein tiefgehendes Trauma offenbart. Das Phänomen, über das wir heute sprechen, wurde zum Beispiel im Zweiten Weltkrieg beobachtet. Erfahre mehr darüber.
"Two Thousand Yard Stare": das Porträt eines Traumas
Valeria Sabater

Geschrieben und geprüft von der Psychologin Valeria Sabater.

Letzte Aktualisierung: 21. April 2023

Kunst ist ein Weg, Traumata zu verarbeiten oder uns auf das Grauen und das Leid der Seele aufmerksam zu machen. Wir sehen den “Two Thousand Yard Stare” auf dem Foto des grünäugigen afghanischen Mädchens, das in den 1980er-Jahre auf dem Cover von National Geographic zu sehen war oder in den Gesichtern der Soldaten, die aus dem Krieg zurückkehren. Tom Lea, ein Kriegsberichterstatter, prägte diesen Begriff 1944 in einem Artikel im Life Magazin.

Auf der Titelseite war ein eindrucksvolles Bild eines Matrosen aus dem Zweiten Weltkrieg zu sehen. Daneben stand die Schlagzeile: “Marines Call It That 2,000 Yard Stare”. Das Porträt des Soldaten spiegelt psychischen Schmerz und eine verwundete Seele wider, für die es kein Zurück gibt.

“Two Thousand Yard Stare”, der starre Blick, weist auf eine Dissoziation hin – das Bedüfnis, sich von der Realität zu lösen, um das Leid zu lindern.

“Two Thousand Yard Stare”: Was ist das?

Der starre Blick, den Tom Lea als “Two Thousand Yard Stare” bezeichnete, ist ein klinisches Symptom, das durch stressige, traumatische und widrige Erfahrungen verursacht wird. Hinter diesem Blick verbirgt sich ein tiefgreifendes psychologisches Trauma oder ein stark belastendes Ereignis. Der elsässische Arzt Johannes Hofer beschrieb dieses Merkmal bereits im 17. Jahrhundert.

Menschen, die das Grauen des Krieges erleben, erleben danach häufig einen Zustand der Gefühllosigkeit und Anhedonie. Sie sind unfähig, ihre Gefühle auszudrücken, was sich in ihrem leeren, starren Blick äußert. Die Schriftstellerin Joan Didion beschreibt in ihrem Buch Das Jahr magischen Denkens¹ dieses Phänomen, das sie selbst nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes John Gregory Dunne erlebte.

Didion erklärt, dass sich traumatisierte Menschen an ihrem Aussehen erkennen. Es ist wie nach einer Untersuchung beim Augenarzt: die Pupillen sind erweitert. Du siehst verloren aus und irrst durch dein Leben. Dieser Zustand entsteht durch eine Reihe psychologischer Prozesse, die wir uns nachfolgend ansehen.

“Ich sah einen zerlumpten Marinesoldaten… der ins Nichts starrte. Sein Geist war im Kampf zusammengebrochen und seine Augen waren wie zwei leere schwarze Löcher in seinem Kopf…. Er verließ die Vereinigten Staaten vor 31 Monaten. In seinem ersten Feldzug wurde er verwundet. Er leidet an Tropenkrankheiten, bekommt wenig Schlaf und zieht den ganzen Tag lang Japaner aus den Löchern. Zwei Drittel seiner Kompanie wurden getötet oder verwundet. Wie viel kann ein Mensch ertragen?”

Tom Lea

Two Thousand Yard Stare: das Porträt eines Traumas
Hinter dem leeren, ausdruckslosen Blick verbirgt sich oft der Schatten eines psychischen Traumas.

“Two Thousand Yard Stare”, der starre Blick des Traumas

Der “Two Thousand Yard Stare” kann das Ergebnis einer posttraumatischen oder einer akuten Belastungsstörung sein. Letztere ist eine normale, anpassungsfähige Reaktion des Körpers auf eine stressige Situation, aber wenn die Symptome über einen längeren Zeitraum anhalten und die Lebensqualität einer Person beeinträchtigen, verliert sie ihren anpassungsfähigen Charakter und wird zu einer Störung.

Die emotionalen Auswirkungen machen sich lange Zeit bemerkbar:

  • Unfähigkeit, Gefühle auszudrücken
  • Abkopplung von der Umwelt
  • Automatische Reaktionen und Festhalten an der Routine
  • Schlaflosigkeit, unberechenbares Verhalten, Panikattacken usw.
  • Starrer, leerer Blick
  • Eingefrorener Gesichtsausdruck, der Traurigkeit, Angst und Verzagtheit widerspiegelt

Wie erklärt sich dieses Phänomen?

Posttraumatischer Stress äußert sich auf vielfältige Weise. Dahinter verbergen sich komplexe psychologische Mechanismen, wie zum Beispiel die Dissoziation. So wird der “Two Thousand Yard Stare” durch diese mentale Trennung oder Dissoziation vermittelt, die viele Menschen erleben, wenn die Situation, in der sie gefangen sind, sehr schmerzhaft ist.

Eine Studie der Widener University in den Vereinigten Staaten sowie andere Forschungsarbeiten verdeutlichen dieses Phänomen. Die Dissoziation ist ein unbewusster Mechanismus, der den Verstand von den Schmerzen löst, um Erleichterung zu finden. Patienten sind jedoch ratlos, realitätsfremd und weisen Identitätsprobleme und Gedächtnislücken auf.

In welchen Situationen entsteht dieser starre, leere Blick?

Das American Journal of Epidemiology nannte im Jahr 2003 die häufigsten psychischen Krankheiten der Golfkriegsveteranen. Die meisten von ihnen litten an einer posttraumatischen Belastungsstörung und am chronischen Müdigkeitssyndrom. Der “Two Thousand Yard Stare” ist bei Soldaten, die an vorderster Front zum Einsatz kamen, weitverbreitet.

Auch Zeugen und/oder Opfer von Kriegsszenarien, Naturkatastrophen oder Erfahrungen großer Dramatik und Entmenschlichung, wie z. B. Bombardierungen, zeigen den starren Blick in die Leere.

"Two Thousand Yard Stare", der starre Blick eines Soldaten
Traumatisierte Soldaten profitieren von einer EMDR-Therapie.

Welche Therapie kann helfen?

Der starre Blick eines traumatisierten Menschen ist ein klinisches Merkmal. Betroffene benötigen dringend eine psychologische Intervention, um zu lernen, mit ihren Erfahrungen umzugehen und dysfunktionale Emotionen und Gedanken zu regulieren.

Menschen, die schlimme Ereignisse erlebt haben, haben das Bedürfnis, sich von diesen Erinnerungen zu entfernen, sich von ihnen zu trennen. Die Dissoziation kann als emotionale Taubheit beschrieben werden, die schmerzliche Gefühle lähmt.

In vielen Fällen kommt eine pharmakologische Behandlung in Kombination mit einer Psychotherapie zum Einsatz. Die Eye Movement Desensitisation and Reprocessing Therapy (EMDR) hat sich als sehr wirksam erwiesen. Sie wurde in den 1980er-Jahren von der Psychologin Francine Shapiro² für die Behandlung von Kriegsveteranen entwickelt.

Traumata sind sehr vielschichtig und komplex, deshalb sind erfahrene Fachkräfte nötig, um Betroffenen zu helfen, die Kontrolle über ihr Leben allmählich zurückzugewinnen und ihr tiefgehendes Leid zu überwinden.

▶ Lese-Tipp

  1. Das Jahr magischen Denkens, Joan Didion, Ullstein Taschenbuch 2021
  2. Frei werden von der Vergangenheit: Trauma-Selbsthilfe nach der EMDR-Methode, Francine Shapiro, 2013

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  • Breslau, N., Lucia, V. C., & Alvarado, G. F. (2006). Intelligence and other predisposing factors in exposure to trauma and posttraumatic stress disorder: a follow-up study at age 17 years. Archives of general psychiatry63(11), 1238–1245. https://doi.org/10.1001/archpsyc.63.11.1238
  • Breslau N. (2001). The epidemiology of posttraumatic stress disorder: what is the extent of the problem? The Journal of clinical psychiatry62(17), 16–22. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/11495091/
  • Boyer, S. M., Caplan, J. E., & Edwards, L. K. (2022). Trauma-Related Dissociation and the Dissociative Disorders:: Neglected Symptoms with Severe Public Health Consequences. Delaware journal of public health8(2), 78–84. https://doi.org/10.32481/djph.2022.05.010
  • Kang, H. K., Natelson, B. H., Mahan, C. M., Lee, K. Y., & Murphy, F. M. (2003). Post-traumatic stress disorder and chronic fatigue syndrome-like illness among Gulf War veterans: a population-based survey of 30,000 veterans. American journal of epidemiology157(2), 141–148. https://doi.org/10.1093/aje/kwf187
  • Schulte-Herbrüggen, O., & Heinz, A. (2012). Psychological trauma in soldiers-a challenge for the German Armed Forces (Bundeswehr). Deutsches Arzteblatt international109(35-36), 557–558. https://doi.org/10.3238/arztebl.2012.0557

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