Trauer durch familiäre Entfremdung: der Schmerz zerbrochener Bindungen

Was tun, wenn sich die Beziehung zur Familie schwierig gestaltet? Manchmal ist Distanz die einzige Möglichkeit, das eigene Wohlbefinden zu wahren. In anderen Fällen ist die Versöhnung mit den richtigen Strategien möglich.
Trauer durch familiäre Entfremdung: der Schmerz zerbrochener Bindungen
Valeria Sabater

Geschrieben und geprüft von der Psychologin Valeria Sabater.

Letzte Aktualisierung: 28. Januar 2023

Was passiert, wenn sich ein erwachsenes Kind entfremdet und distanziert? Das ist eine Realität, mit der viele Menschen zu kämpfen haben. Diese Situation löst stille, ambivalente, manchmal zwiespältige, beunruhigende und sehr schwer zu handhabende Schmerzen aus. Die Trauer durch familiäre Entfremdung ist ein komplizierter Prozess, unabhängig davon, ob der Abbruch der Verbindung gerechtfertigt oder unerwartet ist.

In den letzten Jahren wurde viel darüber geschrieben, wie ratsam es ist, sich von den nahestehenden Personen zu distanzieren, die uns verletzt haben. Es stimmt, dass wir manchmal diesen Schritt wagen müssen, um unsere psychische Gesundheit zu schützen. Eine Familie ist oft wie ein Schachspiel, es gibt jedoch Züge und Dynamiken, die nicht immer leicht zu verstehen oder gar zu rechtfertigen sind. Es ist nicht immer alles schwarz oder weiß.

Manche erwachsene Kinder brechen die Beziehung zu ihrer Familie ab, wenn sie selbst eine Paarbeziehung aufbauen. Auch finanzielle Fragen führen häufig zu bitteren Disputen und Distanz. Ferner können psychische Probleme für die Distanzierung verantwortlich sein, wenn Betroffene impulsive Entscheidungen treffen, die nicht sehr kongruent sind (beispielsweise bei einer Borderline-Persönlichkeitsstörung).

Das sind hochkomplexe Erfahrungen, die nicht frei von Schmerz sind. Deswegen sind wir in vielen Fällen gezwungen, einen Trauerprozess zu durchlaufen, über den nicht oft gesprochen wird… Eine Trauer um geliebte Menschen, die wir nicht mehr sehen, obwohl sie leben.

“Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.”

Leon Tolstoi

Trauer durch familiäre Entfremdung
Immer mehr Familien werden fallen auseinander, dies ist insbesondere bei Eltern und ihren Kindern zu beobachten.

Trauer durch familiäre Entfremdung

Die familiäre Entfremdung ist ein zunehmendes Phänomen, doch es fällt schwer, darüber zu sprechen. Die Familie ist schließlich eine unantastbare Institution, trotzdem können Streit und Meinungsverschiedenheiten nicht verhindert werden. Vorwiegend in westlichen Ländern ist die Distanzierung zwischen Eltern und Kindern oft groß. 

Karl Andrew Pillemer ist Soziologe und Gerontologe und hat dieses Phänomen eingehend untersucht. In seinem “Buch Fault Lines: Fractured Families and How to Mend Them” dokumentiert er, wie häufig solche zerrütteten Beziehungen zwischen Familienmitgliedern vorkommen.

Schätzungsweise haben fast 27 % der Amerikaner die Beziehung zu einem Familienmitglied abgebrochen. Diese Entfremdung schmerzt, verursacht chronischen Stress und Leid, das in der Regel nicht psychologisch behandelt wird. Die Trauer durch familiäre Entfremdung produziert eine gewisse Leere und gemischte Gefühle.

Familiäre Entfremdung: hilfreiche Strategien

Die Gründe, die zum Bruch einer Bindung führen, sind vielfältig und sehr komplex: Meinungsverschiedenheiten, Eltern, die die Partner ihrer Kinder nicht akzeptieren, traumatisierte Kinder, finanzielle und psychische Konflikte… In den meisten Fällen trennen Streitigkeiten mit einem Familienmitglied, das an psychischen Problemen leidet, die Familie. Folgende Strategien können in dieser Situation helfen:

Akzeptanz statt Stigmatisierung

Die Gesellschaft stigmatisiert die familiäre Entfremdung, doch wir müssen diese Realität akzeptieren. Es handelt sich um ein weitverbreitetes Phänomen, dem wir jedoch mehr Aufmerksamkeit schenken sollten, ohne die Beteiligten zu verurteilen. Wichtig ist professionelle Hilfedamit die Betroffenen diese Situation besser überwinden können. Viele sehnen sich nach Versöhnung, sind jedoch nicht in der Lage, allein den ersten Schritt zu tun.

Familiäre Entfremdung durch Kommunikation lösen

In vielen Fällen kommt es durch mangelnde Kommunikation zur Distanzierung. Eine an der Universität Utah State durchgeführte Studie sowie andere Forschungen weisen darauf hin, dass es in dieser Situation grundlegend ist, selbstbewusst, klar und respektvoll zu kommunizieren, ganz unabhängig davon, ob das Bedürfnis der Versöhnung vorhanden ist oder nicht.

Nur so ist es möglich, die Trauer durch familiäre Entfremdung zu überwinden. Eltern, Geschwister oder Kinder werden oft mit der unerwarteten Abwesenheit eines geliebten Menschen konfrontiert und das ist traumatisch. Die Ungewissheit kann verheerende Folgen haben, deshalb sind Offenheit und eine ehrliche Kommunikation essenziell.

familiäre Entfremdung: Streit zwischen Mutter und Tochter
Die Distanzierung verursacht “Kollateralschäden”, da sie in den meisten Fällen auch andere Familienmitglieder zwingt, Partei zu ergreifen.

Emotionen verstehen und akzeptieren

Die familiäre Entfremdung kann ambivalente Gefühle auslösen, die von Traurigkeit bis hin zu Wut reichen. Auch Fassungslosigkeit und Scham sind häufige Begleiter: Die Eltern schämen sich, dass ihr erwachsenes Kind nicht mehr mit ihnen spricht, das Geschwister empfindet Wut, da die Schwester oder der Bruder keinen Kontakt mehr möchte…

Diese Gefühle sollten nicht einfach verdrängt werden. Die familiäre Entfremdung führt zu Leere, unentwirrbaren Knoten, nicht aussprechbaren Worten… Wenn du in dieser Lage bist, musst du deine Emotionen akzeptieren, deine schmerzhaften Gedanken ergründen und mit einer Vertrauensperson oder einer Fachkraft darüber sprechen.

Entfremdungen führen oft zu einer Form von chronischem Stress. Diese zerbrochenen Bindungen sind latente Wunden, die oft ein Leben lang vorhanden sind.

Familiäre Entfremdung: Beziehungen neu strukturieren und in der Gegenwart leben

Die Familie ist keine perfekte oder unzerbrechliche Institution, die alle Stürme überlebt. Manchmal ist die Trennung der einzig mögliche Schritt. Denke über deine Beziehungen und Bindungen nach und gestalte dein Leben neu. Du musst Entscheidungen treffen, die schwierig sind, jedoch nicht unbedingt endgültig sein müssen.

Viele Menschen, die diese Realität erleben, sehnen sich nach Versöhnung. Die Trauer verlangt jedoch, zuerst die Wunden der Vergangenheit zu heilen und die Aufmerksamkeit auf die Gegenwart zu richten. Wenn du an die Vergangenheit zurückdenkst, versuche, dich auf die positiven Erfahrungen zu konzentrieren.

Du musst auch die Entscheidungen der anderen akzeptieren. Konzentriere dich auf Beziehungen und Bindungen, die auf Gegenseitigkeit beruhen und sich lohnen. Wenn du dich selbst dazu entschieden hast, dich zu distanzieren, erinnere dich an die Gründe. Dieser Schritt kann für das Wohlbefinden nötig sein, auch wenn er schwierig ist.

Immer mehr Menschen leiden an der familiären Entfremdung, deshalb sollten wir uns häufiger mit diesem Thema auseinandersetzen und Betroffenen mehr Unterstützung in dieser Situation bieten, um nach Möglichkeit Akzeptanz, Kommunikation und Versöhnung zu fördern.


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  • Scharp KM. “You’re Not Welcome Here”: A Grounded Theory of Family Distancing. Communication Research. 2019;46(4):427-455. doi:10.1177/0093650217715542.
  • Pillemer, Karl (2020) Fault Lines: Fractured Families and How to Mend Them.  Avery

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