Japanische Ästhetik: Yūgen, die geheimnisvolle Tiefe der Existenz
Schönheit scheint in unserer oberflächlichen Welt ein inhaltsloses Konzept zu sein, das schnell verblüht und keine tiefen Spuren zurücklässt. Wenn wir jedoch an ein Gedicht denken, werden wir uns bewusst, dass sich dahinter tiefgehende Erfahrungen verbergen, die weit über die feinsinnigen Worte, die wir hören, hinausgehen. Yūgen ist ein Begriff der japanischen Ästhetik, der schwer zu erklären ist, da es keine genaue Übersetzung dafür gibt. Er bezieht sich auf die geheimnisvolle Tiefe, die du auf dem Weg zur Schlichtheit findest.
Wenn wir unseren Fokus verändern und unsere egoistischen, starren Überzeugungen zurücklassen, können wir die geheimnisvolle Tiefe der Existenz erkennen und ein einmaliges Gefühl erleben, das uns erleuchtet. Du erlebst diese Stimmung, wenn du hinter dem Nebel ein paar Sonnenstrahlen wahrnimmst, wenn du in der Dunkelheit versuchst, die Unendlichkeit des Universums zu verstehen, oder wenn du nicht nur verschiedene Noten, sondern eine einzigartige Komposition hörst, die dich tief im Inneren bewegt. Yūgen beschreibt nicht die Schönheit selbst, sondern das tiefgehende Gefühl, das sie in dir auslöst.
Der Begriff stammt aus dem Chinesischen, wurde jedoch von der japanischen Zen-Philosophie übernommen, um dieses Gefühl der Tiefe zu beschreiben. Auch wenn wir für diese Stimmung kein eigenes Wort haben, ist diese Idee tief in allen Formen der Kunst verwurzelt.
Yūgen lehrt uns, dass sich hinter der offensichtlichen Schönheit einer Blume eine Geschichte verbirgt: Trotz Wind und Schnee zeigt sie sich voller Stolz, doch sie weiß, dass sie vergänglich ist… Wenn du dir die Vergangenheit und die Zukunft dieser Blume vorstellst, dringst du in die Tiefe ihrer Existenz ein.
Yūgen, die verborgene und unerklärliche Schönheit
Der Philosoph Daisetsu Teitaro Suzuki (1870-1966), der für seine Bücher über den Zen-Buddhismus bekannt ist, brachte den Ausdruck yūgen zum ersten Mal in den Westen. Er beschrieb ihn als ein Gefühl, bei dem sich der menschliche Geist mit der Gesamtheit eines bestimmten Phänomens identifiziert – plötzlich scheint etwas Endliches in unserer Wahrnehmung unendlich zu werden.
Der Versuch, diese Idee zu definieren, schmälert ihre Magie. Die Kunst ist jedoch ein ideales Medium, um diese tiefgehende Erfahrung zu erleben. Bereits im 12. Jahrhundert versuchten Persönlichkeiten wie der Mönchspoet Saigyo, ein Liebhaber der Schönheit der Natur, mit ihren Gedichten voller Schmerz und Melancholie dieses einzigartige und mysteriöse Gefühl der Tiefe zu vermitteln.
“Wie der Rauch des Fuji-Bergs verweht vom Wind im Himmel verschwindet, so weiß ich nicht, wo mein Gedanke hinschwebt. “
Saigyo (aus: Herbert Uerlings, Novalis Poesie und Poetik, 2004)
Die Kunst des Beobachtens
Alan Watts, der bekannte britische Philosoph, war auch von der Zen-Philosophie und dem Konzept des yūgen begeistert. Er betrachtete jeden Tag den Himmel und bestaunte die Wildgänse, die hinter den Wolken verschwanden, oder er wanderte durch weit von der Zivilisation entfernte Gebiete, in denen die Natur über die Fortschritte des Menschen triumphierte.
Eine verlassene Eisenbahn, ein See in der Dämmerung, eine Burgruine nach einem stürmischen Nachmittag… Yūgen ist eine berauschende Erfahrung, die nur jene Personen erleben, die fähig sind, ihre Umwelt in Ruhe zu beobachten und sich erlauben, die Fremdartigkeit der Natur, der Menschen und der Kunst zu wahrzunehmen.
Watts war davon überzeugt, dass sich die meisten von uns im Überlebensmodus befinden und davon besessen sind, jede Realität zu verstehen. Um Y ūgen zu erfahren, müssen wir jedoch aus der Normalität ausbrechen und unseren Gefühlen Raum geben. Den tieferliegenden Geheimnissen auf die Spur zu gehen, beruhigt unsere Ängste und gibt allem einen Sinn.
“Du musst deine subjektive Beschäftigung mit dir selbst aufgeben. Sonst drängst du dich dem Objekt auf und lernst nicht. Deine Poesie entsteht von selbst, wenn du mit dem Objekt eins geworden bist, wenn du tief genug in das Objekt eingedrungen bist, um es zu sehen. Wie gut deine Poesie auch immer ausgedrückt sein mag, wenn dein Gefühl nicht natürlich ist, wenn das Objekt von deinem Selbst getrennt ist, dann ist deine Poesie keine wahre Poesie, sondern nur deine subjektive Fälschung.”
Matsuo Basho (1644-1694)
Die Essenz von yūgen ist überall
Du findest das Geheimnis des Yūgen in der Welt, in der du lebst. Überall gibt es einen Schauplatz, der dieses Gefühl von Tiefe und Verwirrung weckt, das uns so sehr inspiriert: ein Buch, ein bereicherndes Gespräch, ein einsamer Waldspaziergang… Diese Erlebnisse regen unser Gehirn an und helfen uns, der Routine, der Eile und der Technologie zu entkommen.
Alan Watts wies darauf hin, dass es immer nützlich ist, auf Schwellen zu achten: Türen, Fenster, ein ausgehöhlter Baum, Hügel, Wolken oder ein Teich… Sie öffnen uns den Weg in eine andere Dimension, in die wir eintauchen können. Wenn wir danach nach Hause kommen, gibt es nichts Besseres, als Papier und Stift zu nehmen und zu beschreiben, was wir gefühlt haben. Es gibt geheimnisvolle Ecken im Alltag, in denen die Essenz des yūgen verborgen ist.
Der Sinn für Tiefe liegt manchmal in traurigen Realitäten
Die Universität Genf führte 2017 eine Studie durch, die etwas Interessantes zutage brachte: Wir neigen dazu, über die Tiefe des Lebens nachzudenken, indem wir Bücher lesen, die uns traurige Geschichten erzählen, oder Geschichten und Anekdoten zuhören, die unsere Emotionen wecken.
In gewisser Weise liegt das yūgen auch in unserer Empathiefähigkeit und unserer emotionalen Verbindung mit der Realität anderer Menschen. Es gibt Ereignisse, die uns bewegen und uns die Schönheit und Bedeutung entdecken lassen, die auch in jedem von uns steckt. Wie wir bereits erwähnt haben, ist dieses Konzept der Zen-Philosophie überall zu finden. Auch in unseren Herzen.
Alle zitierten Quellen wurden von unserem Team gründlich geprüft, um deren Qualität, Verlässlichkeit, Aktualität und Gültigkeit zu gewährleisten. Die Bibliographie dieses Artikels wurde als zuverlässig und akademisch oder wissenschaftlich präzise angesehen.
- Cova, Florian & Deonna, Julien & Sander, David. (2017). “That’s Deep!”: The Role of Being Moved and Feelings of Profundity in the Appreciation of Serious Narratives. 10.1007/978-3-319-63303-9_13.
- Matsuo Basho: The Narrow Road to the Deep North and Other Travel Sketches; translated by Nobuyuki Yuasa. London: Penguin, 1966. Additional references: R. H. Blyth, A History of Haiku (2 vols.). Tokyo: The Hokuseido Press, 1964; T. D. Suzuki, Zen and Japanese Culture. London: Routledge & Kegan Paul, 1959.