Im Nebel der Gesichter: Leben mit Prosopagnosie
So oder so ähnlich passiert es oft auf dem Weg, wenn ich mein Kind in die Kita bringe: Der Fußweg ist nicht lang und dauert nur einige Minuten. In der nahen Umgebung wohnen reihenweise junge Familien, die ebenfalls mit Ihrem Nachwuchs unterwegs sind. Die Wege sind kurz im Kiez. Mit vielen Eltern im Umfeld hatte ich mich in der Vergangenheit zumindest flüchtig schon unterhalten und Kontakte geknüpft.
Kurz bevor ich an der Kita bin, tummeln sich schon eine Reihe von Mamas und Papas mit ihren Kleinen am Eingang.
Da kommt mir eine Frau entgegen, die gerade ihr Kind abgegeben hat.
Kenne ich sie?
Ich versuche mir ein Bild zu machen.
Die Haarfarbe, die Kleidung, die Augenfarbe, die Körpergröße… Gibt es irgendwelche auffälligen Merkmale?
Nicht wirklich, aber vielleicht doch: Ich könnte sie schon einmal gesehen haben. Leichte Nervosität kommt auf. Ganz sicher bin ich mir nicht, denn Gesichter vergesse ich ganz schnell wieder.
Die Kita ist schon in Sichtweite und die Wahrscheinlichkeit ist nicht so gering, dass ich die Frau schon einmal gesehen habe. Es könnte sogar sein, dass ich mich mit ihr früher bereits unterhalten habe. Schließlich habe ich mich schon oft vor der Kita mit anderen Eltern unterhalten.
50/50 Chance.
Ich grüße einfach auf gut Glück.
Ein kurz angebundenes, etwas irritiertes “Hallo” kommt zurück. Die Stimme kommt mir auch nicht wirklich bekannt vor. Nun, anscheinend kenne ich sie doch nicht. Aber es ist aus meiner Erfahrung besser, jemanden auf Verdacht zu grüßen, anstatt vorbeizulaufen (das passiert sowieso oft genug).
Klingelt’s da bei dir? Kommt dir das irgendwie bekannt vor? Oder kennst du jemanden, der öfter an dir vorbeiläuft und dich nicht erkennt?
Dann handelt es sich sehr wahrscheinlich um Gesichtsblindheit. Der Fachbegriff hierfür lautet Prosopagnosie.
Ich kann mir keine Namen merken. Und keine Gesichter!
Gesichtsblinde können Gesichter nur sehr schwer wiedererkennen. Viele Menschen haben Probleme damit, sich Namen zu merken. Das hat bestimmt jeder schon einmal gehört. Gesichtsblinde vergessen dagegen (oder besser: außerdem) Gesichter ganz schnell wieder. Das Gesicht wird zwar ganz normal gesehen, aber blitzschnell ist die Erinnerung wieder weg. Höchstens eine vage Erscheinung bleibt im Gedächtnis.
Leider ist diese Wahrnehmungsschwäche kaum bekannt. Selbst Betroffene wissen nicht immer, dass es so etwas gibt. Sie halten sich selbst für vergesslich, unaufmerksam und wissen einfach nicht, was los ist. Dabei sollen mehr als 2 % der Bevölkerung gesichtsblind sein!
Offen mit der Gesichtsblindheit umgehen? Leichter gesagt als getan
Gesichtsblindheit kann das eigene Leben negativ beeinflussen und soziale Ängste auslösen. Es ist für betroffene Personen nicht immer leicht, sich zu outen und zur eigenen Gesichtsblindheit zu stehen.
Denn erst einmal kann diese Veranlagung mit Scham behaftet sein. Andere Menschen wiederzuerkennen ist schließlich eine ganz grundlegende Fähigkeit, die überall als selbstverständlich gilt. Außerdem gibt es die Sorge, nicht ernst genommen zu werden. Oder noch schlimmer: insbesondere im Job befürchten manche Betroffenen Nachteile und Stigmatisierung. Ganz besonders in sozialen und pädagogischen Berufen kann ein offener Umgang mit der Gesichtsblindheit schwierig sein.
Ein interessantes Beispiel handelt von einer gesichtsblinden Person, die im sozialen Bereich arbeitet. Sie fragt immer die Geburtsdaten ihrer Klienten ab, damit es ja zu keinen Verwechslungen kommt. Fehler hat sie bislang keine gemacht. Anonym bleiben möchte sie aber trotzdem.
Gesichtsblinde kompensieren ihre Wahrnehmungsschwäche mit vielfältigen Strategien und besonderer Aufmerksamkeit. Trotzdem bleibt die Sorge vor Nachteilen bestehen, wenn die Wahrnehmungsschwäche bekannt wird.
Es gibt aber durchaus einige gesichtsblinde Menschen, die öffentlich über diese Veranlagung sprechen. Erst kürzlich hat Brad Pitt ein Interview im GQ Magazine gegeben, in dem er über seine Gesichtsblindheit spricht und den damit verbundenen Vorwurf der Arroganz.
Victoria von Schweden oder Jane Goodall sind weitere berühmte Personen, die gesichtsblind sind. Und wahrscheinlich gibt es noch viele andere, von denen es bislang noch nicht bekannt ist.
How to survive? Strategien für Gesichtsblinde
Typisch für Gesichtsblinde ist, auf bestimmte Merkmale wie Kleidung, Schmuck, Frisur, Körperstatur, den Gang einer Person und anderes zu achten. Diese Merkmale helfen dabei, jemanden zu erkennen. Komplett zuverlässig ist das jedoch nicht, denn die Frisur oder die Kleidung ändern sich gerne mal.
Aufmerksamkeit ist ebenfalls sehr wichtig: Wer kommt gerade in den Raum und wie wird er oder sie von den anderen Anwesenden begrüßt?
Besondere Herausforderungen gibt es immer wieder, die für andere Menschen völlig unproblematisch sind.
Ein Beispiel ist eine Verabredung mit einer Person, die einem nur flüchtig bekannt ist. Es könnte ja sein, dass man sie verwechselt oder an ihr vorbeiläuft und das baut natürlich Stress auf. Ein guter Tipp ist, Zeit und Ort ganz genau abzusprechen und früh am Treffpunkt zu sein. Das macht es leichter.
Mir hat es außerdem sehr geholfen, schnell einen persönlichen Draht zu anderen Menschen aufzubauen und aktiv auf andere zuzugehen. Das konnte ich nicht immer und ich musste das zu Beginn meiner beruflichen Laufbahn erst üben. Doch mit der Zeit hat es immer besser geklappt. Durch das proaktive Verhalten wird es einem weniger krummgenommen, wenn man in einer anderen Situation jemanden “übersieht”.
Das Outing: Eine große Erleichterung
Trotz allem ist der offene und transparente Umgang mit der Gesichtsblindheit immer noch am vielversprechendsten, soweit das möglich ist.
Ich selbst habe mir sehr schwer mit dem Outing getan. Schließlich geht es um eine sehr persönliche Schwäche und die Sorge vor Abwertung schwingt mit. Erst als ich Vater wurde, habe ich mich langsam überwinden können, offener über die Gesichtsblindheit zu sprechen. Davor wussten nur ganz wenige davon.
Das war nicht einfach, aber es hat sehr geholfen. Denn ich wollte endlich einen stressfreien Umgang mit der Prosopagnosie finden, ohne emotionale Belastungen. Daraus ist mittlerweile – neben vielen Gesprächen – ein kleines Projekt namens gesichtsblind.de entstanden. Die Vision dahinter ist, für breite gesellschaftliche Aufklärung rund um Gesichtsblindheit zu sorgen.
Das oben geschilderte “Kita Problem” hat mich übrigens noch auf eine weitere Idee gebracht.
Bei 2 % der Betroffenen kann es doch sehr gut sein, dass es andere gesichtsblinde Eltern oder Kinder an der Kita gibt. Vielleicht wissen sie sogar noch nicht mal etwas von dieser Veranlagung. Nach einem sehr freundlichen Gespräch mit der Kitaleitung wurde eine Rundmail verschickt, um über Prosopagnosie aufzuklären und bei Interesse einen Austausch anzubieten.
Genau das scheint mir das der richtige Weg zu sein: Bewusstsein schaffen und breite Aufklärung. Angefangen im eigenen Umfeld. So weiß wenigstens jeder Bescheid. Eines bleibt jedoch. Auf gut Glück grüßen muss ich manchmal wohl weiterhin.
Wo kann man sich eigentlich auf Prosopagnosie testen lassen?
Viele gesichtsblinde Menschen stehen erst einmal vor der Frage, ob man sich auf Gesichtsblindheit testen lassen kann.
Leider gibt es bislang kein öffentliches Diagnosezentrum, an dem Tests angeboten werden. Das Institut für Kognitive Neurowissenschaft an der Ruhr-Uni Bochum bietet aber immerhin eine Testmöglichkeit auf Anfrage an.
Wer erst einmal online einen Selbsttest machen möchte, kann nach “Cambridge Memory Face Test” suchen und findet einige englischsprachige Webseiten. Bei diesem Test geht es darum, sich Gesichter zu merken und anschließend wiederzuerkennen.
Leicht verfügbare Diagnosemöglichkeiten sind somit kaum vorhanden und selbst im medizinischen Bereich ist Gesichtsblindheit oftmals unbekannt. Deshalb ist Aufklärung so wichtig – damit sich das endlich ändert.
Bist du ebenfalls gesichtsblind? Ich bin gespannt, von deinen Erfahrungen zu hören. Wie gehst du damit um?