Hubert Hermans und die Theorie des dialogischen Selbst

Die Art und Weise, wie wir mit uns selbst reden, hat viel damit zu tun, was um uns herum passiert und welche Beziehungen wir aufbauen. Diese innere Realität wird als das dialogische Selbst bezeichnet.
Hubert Hermans und die Theorie des dialogischen Selbst
Valeria Sabater

Geschrieben und geprüft von der Psychologin Valeria Sabater.

Letzte Aktualisierung: 18. Oktober 2022

Die Theorie des dialogischen Selbst von Hubert Hermans bietet einen interessanten Ansatz über die Dynamik des inneren Dialogs. In dieser Perspektive kann das Selbst die Stimmen der wichtigsten sozialen Figuren des Umfelds annehmen. Schließlich sind wir alle Teil eines komplexen Netzes verschiedener Menschen und Institutionen, die uns konditionieren.

Zum Repertoire an Positionen, die wir einnehmen können, gehört zum Beispiel die unserer Mutter, unseres Chefs, unseres Partners usw. Mit anderen Worten: In unsere inneren Gespräche beziehen wir auch viele der Menschen ein, die unser Leben ausmachen. Wir stellen uns vor, was unser bester Freund oder unsere beste Freundin sagen könnte, wenn wir bestimmte Dinge erzählen. Wir denken auch darüber nach, was unser Vater von bestimmten Entscheidungen hält, die wir getroffen haben.

Das dialogische Selbst ist eine Perspektive, die zwischen dem Individuum und der Gesellschaft, die es umgibt, angesiedelt ist. Wir konzentrieren uns hier nicht auf den klassischen inneren Dialog, der ausschließlich auf das Selbst ausgerichtet ist. In diesem Fall verlagert sich der Blick nach außen und versucht, sich die Standpunkte nahestehender Menschen vorzustellen.

Hubert Hermans und die Theorie des dialogischen Selbst
Das individuelle Selbst hat auch einen sozialen Ursprung und deshalb kann der innere Dialog nach außen gerichtet werden.

Was ist die Theorie des dialogischen Selbst?

Die Theorie des dialogischen Selbst ist ein Rahmenwerk auf halbem Weg zwischen dem zentralisierten Selbst von William James und der dialogischen und kulturellen Schule von Michail Bachtin. Sein Schöpfer war Hubert Hermans, ein niederländischer Psychologe, der in den 1980er-Jahren einen neuen Blickwinkel auf die Konstruktion des Selbst einbringen wollte, der sich stärker auf die Gesellschaft konzentriert.

Lass uns einen Moment über diese Idee nachdenken. Wir stellen uns den inneren Dialog oft als einen von der Welt getrennten Mechanismus vor. In diesem intimen und einsamen Raum kritisieren wir uns selbst, wir bewerten uns, wir nähren Ängste oder Hoffnungen. Wir vergessen jedoch, dass ein großer Teil dieses inneren Gesprächs durch unser Umfeld vermittelt wird. Wir sind von der Gesellschaft geformte Wesen.

Seien wir ehrlich: Wir sind uns dieser konditionierenden Faktoren nicht einmal bewusst. Denk zum Beispiel an das Mädchen im Teenageralter, das anfängt, sich selbst zu entwerten. Das Mädchen, das innere Gespräche führt, in denen es den Hass auf den (vermeintlich) nicht-normativen Körper nährt, weil die Konsumgesellschaft und die Bilder, die es täglich in den sozialen Netzwerken sieht, andere Modelle vorgeben.

In der Theorie des dialogischen Selbst ist das Selbst eine erweiterte Einheit. Wir sind alle mit der Gesellschaft verbunden, in der wir leben, und wir erschaffen wiederum in uns selbst kleine Mini-Gesellschaften, mit denen wir kommunizieren.

Die verschiedenen Positionen des dialogischen Selbst

Hubert Hermans ist eine Schlüsselfigur der narrativen Psychologie. Die Entwicklung der Theorie des dialogischen Selbst verfolgte unterschiedliche Ziele. Eines davon war, zum Verständnis des Einflusses des sozialen und kulturellen Umfelds auf unseren inneren Dialog beizutragen, und ein anderes, an allen “Ichs” zu arbeiten, die wir in uns tragen und die definieren, wer wir sind.

Nach diesem dialogischen Ansatz haben wir also zwei Positionen oder Perspektiven:

  • Die erste wäre eine innere Position, die sich auf alle Arten konzentriert, in denen wir uns selbst wahrnehmen. Zum Beispiel: “Ich bin ein kreativer Mensch, neugierig, ein Liebhaber des Films oder von Tieren, ein Freund meiner Freunde, ein Feind derer, die Gewalt anwenden…”
  • Äußere Positionen sind die Rollen, die wir in der Gesellschaft erfüllen. Zum Beispiel: “Ich bin ein Vater, ich bin eine Tochter, eine Schwester, eine Mathelehrerin usw…”

So betonte Hermans in einem 2001 veröffentlichten Aufsatz, dass es seine Absicht sei, die klassische Sichtweise des Selbst als ausschließlich individuell oder ausschließlich sozial zu dezentralisieren. Wir sind die Kombination aus beiden Sphären.

Die Bedeutung des dialogischen Selbst ist für die Entwicklungspsychologie sehr nützlich, denn sie ermöglicht es uns zu verstehen, wie Kinder ihr Selbstbild in Abhängigkeit von ihren Beziehungen zur Gesellschaft konstruieren.

Der Ursprung unseres psychischen Leidens nach Hubert Hermans

Die Theorie des dialogischen Selbst besagt, dass das menschliche Leiden vorwiegend durch die Verdrängung des inneren Selbst und die Konditionierung des äußeren Selbst erklärt wird. Mit anderen Worten: Wir verdrängen oft das, was wir sind (ein kreativer, gefühlsbetonter Mensch), durch das, was die Gesellschaft uns aufzwingt.

Das kann zum Beispiel dazu führen, dass das Elternsein oder ein bestimmter Job das innere Selbst überschattet, das auch seine eigenen Bedürfnisse hat. Der innere Bereich kann oft mit dem äußeren Bereich in Konflikt geraten.

Theorie des dialogischen Selbst im Labyrinth
Das dialogische Selbst ermöglicht es uns, uns mit den Vorstellungen auseinanderzusetzen, die wir von uns selbst konstruiert haben und die von der Gesellschaft beeinflusst wurden.

Die Technik des persönlichen Positionsrepertoires zur Bewertung und Konfrontation des Selbst

Hubert Hermans hat die Technik des persönlichen Positionsrepertoires entwickelt, um den inneren und äußeren Bereich des Selbst zu bewerten. In der narrativen Therapie versucht er, mit jedem Patienten, seine eigene Lebensgeschichte zu verstehen und Bedürfnisse, Fähigkeiten, Wünsche und Schwierigkeiten zu identifizieren.

In diesem Fall macht es die Arbeit am dialogischen Selbst für die Person einfacher zu verstehen, welche Art von Beziehung sie zur Gesellschaft und zu sich selbst hat. Sie sollte analysieren, wie sie von ihrer Familie, der Arbeit, den Freunden, der Kultur, den Orten und sogar den Objekten, die sie umgeben, beeinflusst wird. All dies erleichtert die Identifizierung all dieser Bereiche, die ihr tägliches Leben bestimmen.

Der nächste Schritt besteht darin, die Selbstkonfrontation zu erleichtern, damit die Person all ihre inneren Narrative, die Beziehungen, die sie zu ihrer Umwelt aufgebaut hat, und die Art und Weise, wie sie diese bestimmt oder interpretiert, entdeckt. Es ist eine mühsame Arbeit der Selbstfindung, bei der man entscheiden muss, welche Änderungen vorgenommen werden sollen oder wie mit bestimmten Dingen umgegangen werden soll.

Schließlich sind wir alle Geschichten, die von einem inneren Ich erzählt werden, das sich seiner Umgebung nicht entziehen kann…


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  • Hermans HJM. The Dialogical Self: Toward a Theory of Personal and Cultural Positioning. Culture & Psychology. 2001;7(3):243-281. doi:10.1177/1354067X0173001
  • Hermans, H.J.M., & Gieser, T. (Eds.) (2012). Handbook of Dialogical Self Theory. Cambridge, UK: Cambridge University Press.
  • Hermans, H.J.M. (2012). Between dreaming and recognition seeking: The emergence of dialogical self theory. Lanham: Maryland: University Press of America.

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