Gibt es die Anpassungsstörung wirklich?

Ist eine Anpassungsstörung tatsächlich eine Störung oder nur eine normale Reaktion auf eine schwierige oder stressige Erfahrung?
Gibt es die Anpassungsstörung wirklich?
Gorka Jiménez Pajares

Geschrieben und geprüft von dem Psychologen Gorka Jiménez Pajares.

Letzte Aktualisierung: 15. Mai 2023

Die Anpassungsstörung ist eine Art “Niemandsland”. Das heißt, es handelt sich um eine klinische Entität, deren Diagnose viel Geschick erfordert, da die Grenze zwischen normal und pathologisch sehr schmal ist. Das geht so weit, dass Menschen, die sich in sehr stressigen und langwierigen Situationen befinden, diese Diagnose erhalten können, was alarmierend ist.

Was ist eine Anpassungsstörung? Erfahre anschließend mehr darüber.

“Was uns als Spezies überleben lässt, ist nicht Intelligenz oder Stärke, sondern unsere Fähigkeit, uns anzupassen.”

Natalia Gómez del Pozuelo

Frau mit Anpassungsstörung
Das DSM-5 geht davon aus, dass eine Anpassungsstörung höchstens sechs Monate dauert.

Was ist eine Anpassungsstörung?

Diese Störung ist eine Reaktion auf ein stressiges oder belastendes Lebensereignis, das bestimmte Symptome auslöst. Eine Trennung, eine lebensbedrohliche Krankheit oder eine Entlassung können dazu führen. Die Diagnosekriterien definieren, dass die Symptome innerhalb von drei Monaten nach dem belastenden Ereignis auftreten (APA, 2015) und höchstens sechs Monate anhalten.

Die Reaktionen beeinträchtigen wichtige Lebensbereiche (Beruf, Familie, soziale Kontakte…) und verursachen starkes Unbehagen (WHO, 2021). Großes Sorgen bestimmen den Alltag: “Mein Partner hat mich verlassen, was soll ich jetzt tun?”, “Ich habe meinen Job verloren und im Leben versagt”… Betroffene fühlen sich nicht in der Lage, sich an die neue Situation anzupassen und leiden darunter. Die Symptome sind jedoch nicht so schwerwiegend wie bei einer Depression oder einer generalisierten Angststörung.

“Eine Anpassungsstörung ist eine fehlangepasste Reaktion auf einen identifizierbaren psychosozialen Stressor oder mehrere Stressoren.”

WHO

Anpassungsstörung: geteilte Meinungen

Ist es sinnvoll, Stress, der uns in einer bestimmten Situation überwältigt, als psychische Störung zu bezeichnen? Wir dürfen nicht vergessen, dass dieses Unbehagen längstens ein halbes Jahr lang anhält. In diesem Zusammenhang weist Belloch (2020) darauf hin, dass die Trennlinie zwischen “normal” und “pathologisch” außerordentlich dünn ist.

Die American Psychiatric Association weist darauf hin, dass die Diagnose einer Anpassungsstörung erfolgen kann, wenn das belastende Ereignis Leid verursacht. Ist es nicht normal, dass eine Trennung oder eine unerwartete Kündigung Unwohlsein und Gefühle wie Traurigkeit oder Frustration auslöst? Stressige Situationen dieser Art verursachen in den meisten Fällen Leid. 

“In der Vergangenheit haben die Einfachheit und die Laxheit der Kriterien zur Definition von Anpassungsstörungen zu Kontroversen über ihren klinischen Nutzen geführt.”

Amparo Belloch

Ist es klinisch sinnvoll, eine Anpassungsstörung zu diagnostizieren?

Ist diese Diagnose von Nutzen? Wenn beispielsweise eine soziale Angststörung diagnostiziert wird, kann je nach Ursache die bestmögliche Behandlung gewählt werden, um der betroffenen Person zu helfen. Bei einer Anpassungsstörung ist das nicht der Fall.

Die Diagnose wird aufgrund des Stressors gestellt (Belloch, 2020), der jedoch nicht mit “schwerwiegenderen” psychischen Störungen vergleichbar ist. Die Ursachen sind nicht lebensbedrohlich, wie bei einer posttraumatischen Belastungsstörung.

Der Stressor ist im Vergleich gering, führt jedoch trotzdem zu einer Störung. Ferner erscheinen und verschwinden die Symptome in einer relativ kurzen Zeit (Belloch, 2020), wir könnten deshalb denken, dass es sich um eine normale Reaktion auf die Auswirkungen eines schmerzhaften Ereignisses handelt, die innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums wieder vergeht. Es ist also fraglich, ob es sich tatsächlich um eine Störung handelt.

“Wir können feststellen, dass es sich um Zustände handelt, die sich entwickeln und wieder aufhören, um vorübergehende Zustände, die sich spontan auflösen.”

Amparo Belloch

Welche Elemente sind entscheidend?

Bei einer Anpassungsstörung können sich affektive Symptome entwickeln, die auch für Depressionen charakteristisch sind. Auch Angstsymptome oder Verhaltensänderungen können folgen. Wir könnten also von einer multisymptomatischen Störung sprechen. Tatsächlich gibt es wissenschaftliche Belege dafür, dass es keinen Unterschied zwischen der Anpassungsstörung und einer Depression gibt. Weder in der Schwere der Symptome noch in der funktionellen Beeinträchtigung (Belloch, 2020).

Allerdings erholen sich Personen mit einer Anpassungsstörung schneller. Doch es fehlen jene Elemente, die die Anpassungsstörung klar und deutlich abgrenzen, deshalb stellt sich die Frage nach der Nützlichkeit dieser diagnostischen Bezeichnung.

Mann mit Anpassungsstörung
Die funktionelle Erholung erfolgt bei Anpassungsstörungen schneller als bei einer schwerwiegenden Depression.

Fazit

Die APA (2015) klassifiziert folgende Subtypen der Anpassungsstörung:

  • Mit depressivem Affekt,
  • ängstlicher Symptomatik,
  • ängstlicher Symptomatik und zusätzlich depressivem Affekt,
  • Verhaltensauffälligkeiten oder
  • mit Verhaltensstörungen und ängstlich-depressiver Symptomatik.

Diese klinische Entität weist also besonders viele Subtypen auf (Belloch, 2020), denen es jedoch an der nötigen Relevanz oder Spezifität fehlt. Deswegen zieht es die WHO vor, die Subtypen abzuschaffen.

“Längsschnittstudien zeigen, dass das häufigste Symptomprofil eine Mischung aus Angst und Depression ist.”

Amparo Belloch

Die Frage nach der Nützlichkeit bleibt unbeantwortet. Die Diagnose einer Anpassungsstörung kann Hinweise darauf geben, wie sich eine Person im Vergleich mit anderen, besser definierten und schwerwiegenderen Störungen (wie Depression) entwickelt. Die mangelhafte Definition dieser Störung kann jedoch auch zu Fehldiagnosen oder zur Pathologisierung einer normalen Reaktion führen.


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  • Belloch, A. (2023). Manual De Psicopatologia. Vol. II (2.a ed.). MCGRAW HILL EDDUCATION.
  • CIE-11. (s. f.). https://icd.who.int/es
  • Carrobles, J. A. S. (2014). Manual de psicopatología y trastornos psicológicos (2a). Ediciones Pirámide.
  • First, M. B. (2015). DSM-5. Manual de Diagnóstico Diferencial. Editorial Médica Panamericana.
  • Herrero Gómez, V., & Cano Vindel, A. (2010). Un caso de trastorno adaptativo con ansiedad: evaluación, tratamiento y seguimiento. Anuario de Psicologia Clinica y de la Salud/Annuary of Clinical and Health Psychology, 6, 53-59.
  • Domínguez-Rodríguez, I., Prieto-Cabras, V., & Barraca-Mairal, J. (2017). Un estudio de caso de trastorno adaptativo con ansiedad por situación de sobrecarga laboral. Clínica y Salud, 28(3), 139-146.

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