Extrovertiert oder introvertiert? Welche Faktoren spielen dabei eine Rolle?
Welche Faktoren bestimmen, ob eine Person extrovertiert oder introvertiert ist? Ist die genetische Prädisposition entscheidend oder sind Umweltfaktoren wichtiger? Erfahre heute interessante Fakten über dieses Thema.
Extrovertiert oder introvertiert?
Die International Encyclopaedia of Behavioural and Social Sciences beschreibt extrovertierte Persönlichkeiten mit Eigenschaften wie Kontaktfreudigkeit, Durchsetzungsvermögen, positiven Emotionen und Impulsivität. Sie sind sehr aktiv, freundlich und genießen Gesellschaft.
Introvertierte Menschen sind hingegen zurückhaltend, ruhig und gelassen. Sie haben in der Regel wenige Freunde und genießen es, Zeit allein zu verbringen.
Diese Persönlichkeitsmerkmale schwanken jedoch häufig, können gleichzeitig auftreten oder wechseln in bestimmten Situationen von der Extraversion zur Introversion oder umgekehrt. In diesem Fall sprechen wir von Ambiversion, also von Menschen, die beide Pole in sich vereinen.
Welche Faktoren bestimmen, ob eine Person extrovertiert ist?
Biologische, umweltbedingte und kulturelle Faktoren spielen eine wesentliche Rolle. Wir schauen uns das komplexe Zusammenspiel dieser Elemente etwas genauer an:
Biologische Faktoren
Neurobiologie und Genetik definieren eine Person nicht, bestimmten jedoch die Prädisposition, die im Zusammenspiel mit umweltbedingten und kulturellen Faktoren zu bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen führt. Die Genetik ist maßgeblich an der Entwicklung der Persönlichkeit beteiligt. Ein in der Zeitschrift Translationale Psychiatrie veröffentlichter Artikel geht davon aus, dass die Big Five-Persönlichkeitsmerkmale, einschließlich Extrovertiertheit, zu 40-60% vererbbar sind. Das ist ein hoher Prozentsatz, trotzdem entscheidet die Genetik nicht alles.
Auch eine von Scientific Reports überprüfte Studie ergab, dass ein höherer Anteil an dopaminergen Genen mehr Kontaktfreudigkeit bedeutet. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass ein hochfunktionales Dopaminsystem mit Verhaltensmerkmalen dieser Persönlichkeit in Verbindung steht.
Ein in der Zeitschrift Frontiers in Human Neuroscience veröffentlichter Artikel weist darauf hin, dass die Dopaminausschüttung die Lust auf neue Erfahrungen fördert. Die Abenteuerlust ist ein charakteristisches Merkmal extrovertierter Personen.
Neben der Genetik und der Neurochemie spielen auch die Gehirnstrukturen eine entscheidende Rolle. Im Jahr 2015 untersuchten die Forscher Lei, Yang und Wu von der Southwest University in Chongqing die Persönlichkeit aus neurobiologischer Sicht. Sie kamen zu dem Schluss, dass Extrovertiertheit mit der Aktivierung verschiedener Hirnregionen zusammenhängt (dem anterioren cingulären Kortex, dem dorsolateralen präfrontalen Kortex, dem medialen temporalen Gyrus und der Amygdala).
Umweltfaktoren
Die Persönlichkeit hängt von der Biologie und der Umwelt ab. Extrovertiertheit wird durch Kultur, Familie, individuelle und soziale Erfahrungen beeinflusst. All diese Faktoren prägen die kognitiven, verhaltensmäßigen und emotionalen Muster dieser Wesensart.
Die heutige Kultur, insbesondere die westliche, individualistische Gesellschaft, ist stark auf Extrovertiertheit konzentriert. Susan Cain erläutert das in ihrem Buch Still: Die Kraft der Introvertierten¹. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass die Entwicklung dieser Persönlichkeit stärker ausgeprägt ist.
Parallel zur Kultur spielt auch die Familie eine Rolle. So neigen Kinder extravertierter Eltern ebenfalls zu dieser Eigenschaft. Sie entwickeln ihre Persönlichkeit unter anderem durch Beobachtung und Nachahmung ihrer engsten Bezugspersonen.
Auch soziale Erfahrungen beeinflussen die Ausprägung der Persönlichkeit. Wenn eine Person ständig mit anderen in Kontakt ist und an sozialen Aktivitäten teilnimmt, wird sie wahrscheinlich extrovertierte Züge entwickeln, da der Kontext dieses Merkmal begünstigt und verstärkt.
“Viele Menschen neigen dazu, sich in sich selbst zurückzuziehen, obwohl sie sich öffnen, wenn man sich für sie interessiert.”
Sylvia Plath
Warum sind manche Menschen introvertiert?
Die Ätiologie der Introversion ist multifaktoriell. Das Zusammenspiel umweltbedingter, biologischer und psychologischer Komponenten prägt introvertierte Personen. Wir sehen uns diese Elemente etwas genauer an.
Biologische Faktoren
Eine in der Zeitschrift Medical Hypotheses veröffentlichte Studie deutet auf einen möglichen Zusammenhang zwischen Blutgruppe und Introversion hin. Die Studie legt nahe, dass das Allel B in der AB-Blutgruppe für dieses Persönlichkeitsmerkmal verantwortlich ist. Es sind jedoch weitere Untersuchungen erforderlich, um diesen Zusammenhang zu bestätigen.
Neurobiologisch gesehen korreliert Introversion mit einem erhöhten Blutfluss im Frontallappen und im vorderen Thalamus, berichtet die American Psychiatric Association. Außerdem wurde erhöhte Aktivität im Broca-Areal, im insularen Kortex und im rechten temporalen Kortex beobachtet.
Ein im Journal of Sleep Research veröffentlichten Studie stellte fest, dass “introvertierte Menschen eine höhere basale Aktivität innerhalb der retikulär-thalamisch-kortikalen Schleife aufweisen, was zu einer höheren tonischen kortikalen Erregung führt als bei extrovertierten Menschen”. Mit anderen Worten: Introvertierte sind erregter und wachsamer.
Obwohl diese Ergebnisse das Verständnis dieser Persönlichkeit verbessern, sind weitere Studien erforderlich. Introvertiertheit ist so komplex und multidimensional, dass sie nicht auf eine kleine Anzahl biologischer Komponenten reduziert werden kann.
Umweltfaktoren
Die Familie ist für die Ausprägung der Persönlichkeit entscheidend. Wenn die Eltern die Kontaktfreudigkeit ihrer Kindern nicht fördern, haben sie nicht die Möglichkeit, diese sozialen Fähigkeiten zu stärken. In der Folge fühlen sie sich unwohl, wenn sie von Menschen umgeben sind, da sie nicht über die nötigen Ressourcen verfügen, um mit ihnen in Kontakt zu treten.
Dies ist jedoch keine absolute Wahrheit. Es gibt auch introvertierte Menschen, die keine sozialen Probleme haben. Sie haben durch introvertierte Eltern einfach bestimmte Muster übernommen. Manche Personen sind gerne allein, obwohl sie über gute soziale Fähigkeiten verfügen. Viele Introvertierte haben kein Problem damit, Freunde zu finden, aber sie ziehen das Alleinsein vor.
Ein weiterer Grund für Introvertiertheit hat mit traumatischen Erfahrungen zu tun. Opfer von Belästigung, Missbrauch und Vergewaltigung distanzieren sich häufig aus Angst, Misstrauen und Selbstschutz von anderen. Es handelt sich um einen Abwehrmechanismus.
Warum sind also manche Menschen extrovertiert und andere introvertiert?
Jeder Mensch hat eine Geschichte und verschiedene Gründe dafür, so zu sein, wie er ist. Die beschriebenen Aspekte können deshalb nicht verallgemeinert werden. Genetische, biologische und umweltbedingte Faktoren spielen in der Persönlichkeitsentwicklung auf jeden Fall eine entscheidende Rolle. Sie prägen Verhaltens-, Erkenntnis- und Gefühlsmuster, die für einen Persönlichkeitsstil charakteristisch sind. Denke über die Umweltelemente nach, die dich geprägt haben. Wie über dem Orakel von Delphi stand: “Erkenne dich selbst”.
▶ Lese-Tipp
- Still: Die Kraft der Introvertierten, Susan Cain, Goldmann 2013
Alle zitierten Quellen wurden von unserem Team gründlich geprüft, um deren Qualität, Verlässlichkeit, Aktualität und Gültigkeit zu gewährleisten. Die Bibliographie dieses Artikels wurde als zuverlässig und akademisch oder wissenschaftlich präzise angesehen.
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