Es gibt Mütter, die möchten, dass ihre Töchter für immer klein bleiben
Der Abnabelungsprozess zwischen Müttern und Töchtern wird durch das Patriarchat sehr negativ beeinflusst. Es ist gerade so, als ob der Einfluss dieser patriarchalischen Kultur zur Folge hätte, dass jede Frau den insgeheimen Wunsch hegt, den ihr ihre Mutter einst mit auf den Weg gab: „Geh deinen eigenen Weg. Breite deine Flügel aus und verwirkliche dich selbst.“ Doch so häufig dieser Wunsch auch anzutreffen ist, wird er nur selten war, besonders in „Macho-Gesellschaften“, wie sie in mehreren Ländern tief verankert sind.
Viele Mütter hätten es wohl am liebsten, wenn die eigene Tochter klein bleiben würde und sie weiterhin die Kontrolle über sie behalten könnten, anstatt zu erlauben, dass sie nach ihren eigenen Vorstellungen denkt und lebt. Jeglicher Anflug eines Wunsches nach Autonomie, der gegen die Vorstellung der Mutter über das Leben der Tochter ist, bringt sie dazu, Dinge zu sagen wie: „Undank ist der Welt Lohn.“ Oder sie machen ihren Töchtern schreckliche und seltsame Prophezeiungen: „Irgendwann willst du nichts mehr mit mir zu tun haben und dann will ich dich mal sehen.“
Das Ergebnis ist, dass sich viele Töchter nicht trauen, ihren eigenen Weg zu gehen. Auf Gesellschaftsebene bedeutet das meist, dass die Tochter, die dem Wunsch einer solchen Mutter nachgibt, sich in der Erziehung der nächsten Generation ebenso verhält. Dann schließt sich der Kreis.
„Wann haben wir uns nur voneinander distanziert? War das erst gestern Nacht? Oder am Tag davor? Es ist eigentlich vollkommen egal. Gestern, vorgestern, vor Jahren – es ist so oder so die gleiche Geschichte.“
Ngugi wa Thiong’o
Doch eines ist sicher: Für eine Frau kann der Bruch mit ihrer Mutter – auch wenn von ihr selbst gewählt – zu einem schwerwiegenden Konflikt werden. Viele Frauen haben das Gefühl, zwischen zwei Stühlen zu sitzen: Sie bewundern ihre Mutter und möchten sie nur glücklich machen. Aber gleichzeitig wissen sie, dass sie sich von ihr abkapseln müssen, um ihren eigenen Weg finden zu können.
Mütter, die wollen, dass ihre Töchter auf ewig klein bleiben
Viele Mütter vermitteln ihren Töchtern auf eine unterbewusste Art und Weise: „Du musst klein bleiben, wenn du nicht willst, dass ich leide.“ Doch dieser indirekte Befehl ist auch eine grauenvolle Bedrohung: „Bleib klein, damit ich dich weiter lieben kann.“
Dass ihre Töchter weiterhin ein kleines Mädchen bleiben, ist der große Wunsch von Müttern, die in einer Macho-Gesellschaft groß geworden sind. Ihre Töchter setzen ihr Erbe fort und sind keine freien Individuen, die sich selbst verwirklichen können. Wenn die Tochter klein bleibt, auch wenn sie schon erwachsen ist, muss die Mutter nicht damit beginnen, zu hinterfragen, was sie in ihrem eigenen Leben erreicht hat, und reißt so keine Wunden auf, die sie, und nur sie, heilen kann.
Der Wunsch der Tochter nach Unabhängigkeit kann von einer Mutter als enorme Bedrohung oder als große Beleidigung empfunden werden. Deshalb kann es passieren, dass sie ihre Tochter, die sich selbst verwirklichen will, zurückweist und sogar nichts mehr mit ihr zu tun haben will.
Der durch den Bruch mit der Mutter verursachte Schmerz
Der Versuchung zu widerstehen, Mamas kleines Mädchen zu bleiben, fällt nicht leicht. Viele Frauen müssen sich irgendwann entscheiden, ob sie von ihrer Mutter sehr geliebt und beschützt werden und dabei aber auf Autonomie verzichten möchten, oder ob sie mit dem mütterlichen Erbe brechen, um ihren eigenen Weg zu finden, was ihre Mutter sehr verletzt oder wütend macht und mit Schuldgefühlen und dem Gefühl, nun allein zu sein, einhergeht.
Hierbei handelt es sich nicht nur um einen kleinen Konflikt. Das ist in der Tat einer der schwierigsten Momente im Leben. Paradoxerweise überkommt die Tochter ein tiefer Schmerz, auch wenn alles gut läuft. Dieses Bild von einer Mutter, die bedingungslos liebt, geht verloren. Diese Entscheidung geht gegen den Wunsch einer solchen Mutter, für die die Unabhängigkeit ihrer Tochter einen Dolchstich ins Herz bedeutet.
Jede Frau, die sich dazu entschließt, den Vorstellungen ihrer Mutter nicht nachzukommen, weint dieser Mutter hinterher, die nun nicht mehr an ihrer Seite und auch nicht mehr die Mutter ist, die sie einst kannte. Am Ende dieses Prozesses wartet dennoch einer der größten Erfolge im Leben auf sie: die Selbstverwirklichung. Es ist doch so, dass eine Frau mehr oder weniger unsicher ist, wenn sie unter den Fittichen ihrer Mutter lebt.
Mit dem typischen Bild der Frau brechen, das der Tochter von der Mutter auferlegt wird
Viele Frauen wurden dazu erzogen, sich um das emotionale Wohlbefinden all jener zu kümmern, die ihr Umfeld bilden. Es werden sogar Theorien aufgestellt, um dieses vom Patriarchat geschaffene Bild der Frau zu rechtfertigen. Beispielsweise besagt eine solche, dass die Frau einen mütterlichen Instinkt besitze und sie deswegen von Natur aus darauf programmiert sei, andere zu beschützen und sich um sie zu kümmern.
Aus diesem Grund gibt es unzählige Frauen, die sich für die Leere oder das Leid anderer verantwortlich fühlen. Das beginnt natürlich schon bei der Leere der eigenen Mutter. Mit dieser von der Macho-Gesellschaft auferlegten Rolle zu brechen, hat einen Prozess voller Zweifel und Unbehagen zur Folge. Frauen fühlen sich jedes Mal schuldig, wenn sie ihre eigenen Bedürfnisse über die anderer stellen. Mütter, die sich nicht selbst verwirklicht haben, möchten, dass ihre Töchter „gute Kinder“ sind, und sind sehr enttäuscht, sobald diese ihren eigenen Bedürfnissen Priorität geben.
Damit eine Frau herausfinden kann, wer sie wirklich ist und damit sie die Kontrolle über ihr eigenes Leben haben kann, muss sie diesen Stereotypen den Kampf ansagen, die oftmals von ihrer eigenen Mutter vermittelt und verteidigt wurden. Und auch wenn das bedeutet, sich vorerst von ihr zu distanzieren, ist es es wert, für die eigene Autonomie einzustehen.
Es kann gut sein, dass ihre Mutter letztendlich Einsicht zeigt und eine gesündere Einstellung hinsichtlich der Autonomie ihrer geliebten Tochter entwickelt. Falls nicht, mag es sein, dass sie es einfach akzeptiert. In beiden Fällen wird sich die Verbindung zwischen beiden verändern, um zu einer besseren Mutter-Tochter-Beziehung voller Dankbarkeit, Respekt und ohne neurotische Zwänge zu werden.
Bildmaterial mit freundlicher Genehmigung von Brian Kershisnik