Die Selbstmedikationstheorie der Drogensucht

Die Selbstmedikationstheorie der Drogensucht
Judith Francisco

Geschrieben und geprüft von der Psychologin Judith Francisco.

Letzte Aktualisierung: 22. Dezember 2022

Seit jeher sucht der Mensch nach Heilpflanzen, will Substanzen zur Regeneration und Entspannung konsumieren. Dies könnte der Grund sein, warum so viele Menschen heutzutage psychoaktive Substanzen konsumieren.

Diese Gewohnheit ist Teil der Überzeugungen und Ideen einer jeden Epoche in Bezug auf Gesundheit und Krankheiten. So sah man Süchtige zu Beginn des 20. Jahrhunderts als faule und abscheuliche Wesen an, die nicht über die Willensstärke verfügten, um ihre Impulse zu kontrollieren. Khantzian, ein Psychoanalytiker, der Süchtige an der Harvard University (Massachusetts, USA) behandelte, hat sich der Frage gewidmet, warum Süchtige jene Substanzen konsumierten, wenn auf ein solches Verhalten doch soziale Ächtung folgte. Er entwickelte im Rahmen seiner Untersuchungen die Theorie der Selbstmedikation, die besagt, dass die Hauptursache des Konsums in der Unfähigkeit der Person bestehe, negative Zustände zu tolerieren.

Gegenwärtig ist Drogenmissbrauch ein großes Problem für die öffentliche Gesundheit. Dies hat einen weitreichenden Einfluss auf die Gesellschaft, mit zahlreichen Auswirkungen sozialer, gerichtlicher und politischer Natur. Deshalb besteht nach wie vor Forschungsbedarf zu den Ursachen und Folgen der Sucht.

Ein verzweifelter Mann kommt nicht von seiner Sucht los.

Worin besteht die Theorie der Selbstmedikation?

Während der Arbeit mit seinen Patienten beobachtete Khantzian, dass alle mindestens drei verschiedene psychoaktive Substanzen konsumiert hatten, bevor sie jene Sucht oder Abhängigkeit entwickelten, wegen der sie behandelt werden sollten. In diesem Moment fragte sich der Wissenschaftler, warum sie diese Medikamente anstelle von anderen gewählt hatten, und schließlich kam er zu einem Schluss: Abhängig von der zugrunde liegenden psychiatrischen Erkrankung, unter der jeder Patient litt, wählte er das Medikament, das seine psychopathologischen Symptome am besten linderte.

Zum Beispiel widmete sich ein schüchterner Geschäftsmann dem Alkohol, um seinen Umsatz zu steigern. Der Teenager mit Aggressionen hingegen konsumierte Heroin, um seine Impulse besser kontrollieren zu können. Sie alle probierten eine Droge nach der anderen aus, bis sie diejenige gefunden hatten, die für sie am effektivsten war. Aber der missbräuchliche Konsum jener Substanz brachte natürlich ein anderes Problem mit sich: die Sucht.

Um die Diagnose einer substanzbedingten Störung gemäß des Diagnostischen und statistischen Leitfadens psychischer Störungen  stellen zu können, müssen Patienten mindestens zwei Monate lang mindestens zwei der folgenden Kriterien vorweisen:

  • Intensiver Wunsch, die Substanz zu konsumieren
  • Verbrauch großer Mengen der Substanz über einen längeren Zeitraum als erwartet
  • Toleranz
  • Kontinuierlicher Konsum, obwohl bekannt ist, dass dadurch körperliche oder geistige Probleme verschlimmert werden könnten
  • Investition von Zeit, um das Medikament zu bekommen, zu konsumieren oder sich davon zu erholen
  • Beständiger Wunsch, den Konsum zu regulieren oder zu stoppen, und fehlgeschlagene Bemühungen, aufzuhören.
  • Dennoch fortgesetzter Konsum, unabhängig von den wiederkehrenden Problemen, die er im zwischenmenschlichen Leben verursacht oder verschlimmert haben könnte
  • Vernachlässigung akademischer, beruflicher oder häuslicher Pflichten
  • Verzicht auf wichtige soziale, berufliche und erholsame Aktivitäten aufgrund des Konsums der jeweiligen Substanz
  • Rückzug
Ein verzweifeltes Mädchen kommt nicht von seiner Sucht los.

Gibt es Beweise, um die Theorie der Selbstmedikation zu unterstützen?

Wie wir bereits erläutert haben, findet diese Theorie der Selbstmedikation Anwendung bei Patienten, die ihre Substanzabhängigkeit entwickelt haben, weil sie an psychopathologischen Störungen leiden, die direkt oder indirekt dazu führen, dass sie Substanzen zur Selbstbehandlung konsumieren.

Diese Hypothese basiert auf bekannten Eigenschaften von Opioidrezeptoren im zentralen Nervensystem:

  • Jede Substanz kann einen Effekt auf das zentrale Nervensystem haben, wenn sie an bestimmte Gehirnstrukturen bindet, z. B. an Opiodrezeptoren.
  • Jene Substanz, wie Heroin oder Kokain, die wiederholt auf diese Gehirnstrukturen einwirkt, löst eine Reihe von Veränderungen aus, die das Individuum süchtig machen.

Obwohl diese Hypothese ursprünglich für die Abhängigkeit von Opiaten und Psychostimulanzien vorgeschlagen wurde, gilt sie auch für die Sucht nach Alkohol. Auch bei Patienten mit Schizophrenie und Persönlichkeitsstörungen scheint sie zumindest partiell zu gelten.

Neben der Theorie von Khantzian wurden und werden auch andere Hypothesen berücksichtigt. Tatsächlich ist die Debatte derzeit noch nicht abgeschlossen. Es ist offensichtlich, dass jeder Patient anders ist. Daher benötigt jeder Patient eine individuelle Diagnose und Behandlung. Die Tatsache, dass diese Theorie durch wissenschaftliche Beweise gestützt wird, bedeutet nicht, dass alle Patienten, die süchtig sind, psychische Erkrankungen aufweisen würden. Aber sie weist darauf hin, dass dies der Fall sein könnte.

“Wir sind alle nur ein Haufen Süchtiger, die mit dem Medikament ihrer Wahl kämpfen.”

J. M. Storm


Dieser Text dient nur zu Informationszwecken und ersetzt nicht die Beratung durch einen Fachmann. Bei Zweifeln konsultieren Sie Ihren Spezialisten.