Die Narben, die sexueller Missbrauch bei Jungen und Männern hinterlässt
Sexueller Missbrauch von Jungen ist eine der am häufigsten vertuschten Gräueltaten der jüngeren Geschichte. Obwohl auch viele Mädchen missbraucht werden, ist es gleichermaßen erforderlich, die Missbrauchsfälle bei Jungen genauer zu untersuchen. Sehr viele Menschen werden erstaunt darüber sein, wie groß die Zahl dieser Fälle tatsächlich ist.
Eine Studie in Australien ergab, dass schätzungsweise jeder elfte Junge und jedes vierte Mädchen Opfer von sexuellem Kindesmissbrauch wird, wobei die Arten des Missbrauchs unterschiedlich sein können. Die Täter sind fast ausschließlich (97%) Männer und auch viele Opfer sind männlich. Tatsächlich sind 26% aller Opfer sexueller Übergriffe Jungen und Männer.
Vergleichbare Studien in den Vereinigten Staaten kamen zu sehr ähnlichen Ergebnissen. Das ist nicht sehr ermutigend. Sexueller Missbrauch und seine Folgen begleiten die meisten Opfer ein Leben lang. Er ist wie eine Last, die sie nicht abschütteln und loswerden können.
Außerdem sind die Opfer traumatisiert, wobei das Trauma oftmals nicht als solches erkennbar ist. Häufig fühlen sie sich schlecht und wissen gar nicht, was die Ursache dieser Gefühle ist.
In den vergangenen Jahren haben viele Frauen auf schmerzhafte Weise die Kultur des Schweigens durchbrochen, indem sie mutig und progressiv ihre eigenen Missbrauchserfahrungen öffentlich thematisiert haben. Anders sieht es bei Männern aus.
Sexueller Missbrauch von Männern ist nach wie vor ein Tabuthema und erst in jüngster Zeit beginnen einige von ihnen damit, über ihre traumatischen Kindheitserlebnisse zu sprechen.
Die Kultur des Schweigens
Für Jungen oder Männer ist es besonders schwer, darüber zu sprechen, dass sie als Kinder sexuellen Missbrauch erfahren haben. In unserer patriarchalischen Welt wachsen Jungen in der Überzeugung auf, dass sie stark und einflussreich sein müssen. Andernfalls gelten sie als Schwächlinge, unmännlich und nicht überlebensfähig.
Daher stellt es für Männer eine besonders große Herausforderung dar, ihre Opferrolle zu akzeptieren. Zugleich begeben sie sich dadurch in die Welt der Gefühle. Und den Umgang mit Emotionen haben die meisten von ihnen gar nicht wirklich erlernt. Diese Tatsache ist einer der traurigsten Aspekte, wenn wir darüber nachdenken, wie wir Jungen schon von klein auf erziehen.
Wenn ein Mann zugibt, dass er Opfer von sexuellem Missbrauch geworden ist, dann läuft er Gefahr, für diese vermeintliche Schwäche angegriffen zu werden. Er riskiert dadurch, dass ihm seine “Männlichkeit” abgesprochen wird. Außerdem setzt er sich Anfeindungen, Unglauben und Zweifeln bezüglich seiner sexuellen Neigungen aus.
Dadurch erlebt er den bereits erlittenen Schmerz noch einmal neu. Auch Jungen reagieren auf Missbrauch oft mit Ungläubigkeit. Es ist sehr schwer für sie zu akzeptieren, dass ihnen “das” wirklich widerfahren ist. Meistens befürchten sie außerdem, dass ihnen sowieso niemand glauben wird.
Macht und sexueller Missbrauch von Jungen
Sexueller Missbrauch von Jungen hat nicht immer nur damit zu tun, dass der Täter sexuelle Befriedigung sucht. In zahlreichen Fällen wird er vielmehr dazu eingesetzt, um Macht oder Kontrolle über das Opfer auszuüben oder es zu demütigen.
Wenn die Opfer männlich sind, dann passiert es sehr häufig, dass sie tiefe Wunden und Zweifel bezüglich ihrer sexuellen Identität und ihrer Männlichkeit erleiden. Auch künftige Beziehungen werden dadurch oftmals stark beeinflusst. Diese Wunden heilen meistens nur sehr schwer.
Sexuelle Gewalt ist nicht nur durch den physischen Aspekt gekennzeichnet. Der psychische Missbrauch und die Stigmatisierung, die den Opfern widerfährt, ist für sie oftmals noch viel schlimmer als der körperliche Missbrauch selber.
Um wirklich verstehen zu können, welche tiefen Wunden diese Art der Gewalt bei Jungen und Männern verursacht, ist es entscheidend zu erkennen, dass sie eigentlich einen Missbrauch von Macht darstellt.
Der Täter übt einem Jungen gegenüber Gewalt aus, um ihm seine Stärke und Macht zu demonstrieren. Außerdem erfolgt sexueller Missbrauch oft auch in dem Wissen der Täter, dass das Opfer nicht fähig ist, den exakten Unterschied zwischen einvernehmlichem und nicht einvernehmlichem Sex zu erkennen.
Das wiederum führt zu extrem überwältigenden Schuldgefühlen beim missbrauchten Jungen. Um das ganze Ausmass erkennen zu können, müsste er emotional wesentlich reifer sein, als er das in seinem jungen Alter ist. Daher ist sexueller Missbrauch besonders im Kindesalter so folgenreich und traumatisierend.
Sexueller Missbrauch: der verborgene Terror eines bösartigen Patriarchats
Vielen Menschen fällt es schwer zu verstehen, dass sexueller Missbrauch durch Männer an Männern nichts anderes ist, als eine Form der patriarchischen Dominanz und Herrschaft. Oftmals glauben wir, dass dieses System den Männern Macht über Frauen verleiht. Was allerdings wirklich passiert, ist, dass dieses System Machtausübung den Schwachen und Hilflosen gegenüber ermöglicht.
Es ist ein sehr gefährliches Spiel, welches unsere Kultur schon viel zu lange vertuscht und verschwiegen hat. Dieses System müssen wir nicht mit Geschlechter-Diskussionen bekämpfen, sondern vielmehr als Menschen. Denn schlussendlich schadet dieses System sowohl Männern als auch Frauen.
Psychische Narben und Wunden
Die psychischen Narben und Wunden, die Jungen durch sexuellen Missbrauch erleiden, haben einige Gemeinsamkeiten mit denen von Mädchen, die diese Erfahrungen machen mussten. Beinahe unmittelbar nach dem Missbrauch leiden sowohl Jungen als auch Mädchen an Depressionen. Schuldgefühle und geringes Selbstwertgefühl treten ebenfalls kurze Zeit später sehr häufig auf.
Durch sexuellen Missbrauch sinkt das Selbstwertgefühl der betroffenen Kinder sehr stark. Wenn sie nicht darüber sprechen und noch schlimmer, wenn der Missbrauch andauert, dann verstärken sich Schamgefühle, Gefühle von Schmutzigkeit, Schmerzen, Verlassenheit und Hilflosigkeit immer mehr.
Das Kind lebt dann in einer Welt, die es nicht kontrollieren kann. Außerdem sieht es keine Möglichkeit, den Täter davon abzuhalten, es weiter zu missbrauchen.
Wenn wir bedenken, dass all dies während dieser so wichtigen Entwicklungsphase von Kindern geschieht, dann können wir verstehen, warum die Konsequenzen so tiefgreifend und verheerend sind. Wenn Kinder die Opfer sind, dann kommen zu allen bereits genannten Folgen noch weitere hinzu: sozialer Druck und konditionierte Verhaltensweisen, die sie davon abhalten, zu akzeptieren, dass sie missbraucht wurden.
In vielen Fällen entstehen auch tiefe Einschnitte und Wunden in ihrer sexuellen Identität. Oftmals können diese nie geheilt werden. All das führt dazu, dass diese Menschen nie wirklich mit der Verarbeitung der Erlebnisse beginnen können. Außerdem verstärkt sich auch das erlittene Trauma im Laufe der Jahre und verschlimmert sich weiter.