Der Zusammenhang zwischen Genetik und psychischen Störungen
Forscherinnen und Forscher untersuchen schon seit Jahrzehnten die Rolle der Genetik in der psychischen Gesundheit. Die Ergebnisse waren jedoch oft verwirrend oder unpräzise. Tatsächlich gibt es immer noch keine Biomarker, die auf das Vorhandensein von psychischen Störungen hinweisen.
Biomarker ist ein Oberbegriff für verschiedene Merkmale und Eigenschaften, die man durch medizinische Tests, z. B. einen Bluttest oder eine bildgebende Untersuchung, feststellen kann, um eine Krankheit wie Depression oder soziale Ängste eindeutig zu identifizieren. Für Narkolepsie ist Orexin der einzige bekannte Biomarker. Eine aktuelle Studie versucht jedoch, mehr Licht in diesen Bereich zu bringen.
Präzisionspsychiatrie?
Im Vergleich zur gesunden Bevölkerung leben Menschen mit psychiatrischen Problemen etwa ein Jahrzehnt weniger. Dies ist einer der Faktoren, die die Erforschung der Rolle der Genetik in der Ätiologie der Psychopathologie motivieren, um präzisere, wirksamere und sicherere pharmakologische Behandlungen zu entwickeln.
Außerdem ist bekannt, dass die Pharmakotherapie eher palliativ als heilend wirkt (Andreassen, 2023). Das liegt an den Rückfällen und dem erneuten Auftreten von Symptomen, die Patienten oft erleben. Für die Psychiatrie besteht also ein dringender Bedarf, von der derzeitigen Diagnose durch klinische Beobachtung zur Diagnose durch medizinische Tests überzugehen.
“In den letzten Jahrzehnten hat es in der Psychiatrie keine großen therapeutischen Fortschritte gegeben.”
Ole A. Andreassen
Aktuelle Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen Genetik und psychischen Störungen
Dass es klinische Entitäten gibt, die mehr oder weniger stark vererbt werden, ist eine wissenschaftlich belegte Gewissheit. Heute weiß man, dass sowohl genetische als auch epigenetische Faktoren eine Rolle spielen und sich gegenseitig beeinflussen.
Was ist Epigenetik?
Die Epigenetik erforscht die Umwelteinflüsse auf die Gene. Bestimmte Gene können aktiviert werden oder nicht, was vom Umfeld abhängt, in dem sich eine Person bewegt. So können beispielsweise “chaotische Faktoren” bei der Entstehung von psychischen Krankheiten eine Rolle spielen. Diese Faktoren beziehen sich auf Variationen und Veränderungen in der DNA, die zwar nicht vererbbar sind, jedoch das Risiko für bestimmte Krankheiten erhöhen.
“Die Identifizierung genetischer Risikovarianten könnte wertvolle Erkenntnisse über die Ätiologie liefern, indem die zentralen biologischen Mechanismen aufgezeigt werden.”
Ole. A. Andreassen
Aktueller Stand der Dinge: In welchem Ausmaß sind psychische Störungen vererbbar?
In der zitierten Studie wurden alle verfügbaren Informationen über den Grad der Vererbbarkeit verschiedener psychiatrischer Erkrankungen zusammengetragen. Die Wissenschaftler stellten fest, dass die Vererbbarkeit bzw. das genetische Risiko für Psychose-Spektrum-Störungen wie Schizophrenie und neurologische Entwicklungsstörungen wie Autismus bei bis zu 85 % liegt.
“Es gibt kein einzelnes Krankheitsgen für psychiatrische Störungen, sondern Tausende von genetischen Varianten, die zusammenwirken und gemeinsam das Krankheitsrisiko beeinflussen.”
Ole A. Andreassen
Bei Depressionen und Angstzuständen liegt die Erblichkeit bei fast 60 %. Das bedeutet, dass 40 % des Risikos auf Umweltfaktoren zurückzuführen sind. Die höchste Erblichkeit findet sich bei schizophrenen Störungen, bipolaren Störungen und ADHS, während Depressionen, das Tourette-Syndrom und PTBS eine vergleichsweise geringere Erblichkeit aufweisen.
Genetik und psychische Erkrankungen
Eine der Schlussfolgerungen der genetischen Psychiatrie ist, dass psychische Erkrankungen keineswegs von einem einzigen Gen abhängig sind. Vielmehr ist die Rede von Tausenden Genen, die zusammenwirken und auf kontextuelle Einflüsse reagieren, um als Ergebnis eine klinische Entität in jeder Person hervorzubringen.
Allerdings fehlt es uns noch an ausreichendem Wissen, um eine präzisere und heilende Psychiatrie zu schaffen. Die genetische Psychiatrie ist noch ein sehr junger Zweig. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass es Varianten verschiedener Gene gibt, die einen starken Einfluss auf verschiedene Störungen haben. Der nächste Schritt ist, die Genetik besser zu verstehen.
“Die psychiatrische Genetik steckt noch in den Kinderschuhen, aber sie verspricht, die psychiatrische Versorgung zu verbessern, indem sie den Weg für die Präzisionspsychiatrie ebnet.”
Ole. A. Andreassen
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Andreassen, O.A., Hindley, G.F.L., Frei, O. and Smeland, O.B. (2023), New insights from the last decade of research in psychiatric genetics: discoveries, challenges and clinical implications. World Psychiatry, 22: 4-24. https://doi.org/10.1002/wps.21034
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Bas, X. G. (2019). Genómica de los trastornos psiquiátricos: análisis de la arquitectura genética compartida mediante modelos de riesgo poligénico (Doctoral dissertation, Universidade de Santiago de Compostela).