Besser streiten lernen

Besser streiten lernen
Alicia Yagüe Fernández

Geschrieben und geprüft von der Psychologin Alicia Yagüe Fernández.

Letzte Aktualisierung: 17. Januar 2023

Wir sind in einer Kultur des ständigen Streitens aufgewachsen, in der uns vieles nervt und wir ständig Meinungsverschiedenheiten erleben. Wir streiten fast jeden Tag über etwas. Gleich am Morgen streiten wir uns mit dem Zusteller, der vor unserer Garage geparkt hat. Mittags kämpfen wir mit unserem Sohn, weil er lieber mit seinem Handy spielt als mittagzuessen. Dann streiten wir uns vielleicht noch mit unserem Freund, der vergessen hat, uns anzurufen. Um diesen Tag abzurunden, rufen wir am Abend unseren Partner an, um unseren Frust bei ihm abzuladen.

Tatsächlich kann Streiten viel Zeit in Anspruch nehmen, aber ist es auch immer produktiv? Ist es etwas Positives oder Negatives, wenn wir so viele Differenzen haben? Kann man streiten, ohne dass das Ganze gleich in einen Ringkampf ausartet?

Streiten bringt uns anderen näher

Die meisten Leute glauben, dass Streiten mit einer anderen Person zwangsläufig in ein Gefecht ausarten müsse. Wenn wir uns jedoch das ähnliche Wort “argumentieren” im Duden ansehen, wird schnell klar, dass ein Streit nicht zwangsläufig ausarten muss. Argumentieren laut Duden heißt:

  • Gründe für oder gegen etwas darlegen
  • Gründe erörtern
  • Einen Beweis führen
    Zwei Menschen diskutieren, während sie einen Kaffee trinken.

Auf diese Weise müssen zwei oder mehr Personen sich ausführlich mit einem Thema befassen, die Position des jeweils anderen anhören und entgegengesetzte Standpunkte entsprechend überdenken. Wie wir hier sehen können, hat das Konzept des Streits nichts mit einer Konfrontation zu tun, sondern mehr mit dem Debattieren. Wenn wir in einem Konflikt unsere Meinungen zu einem bestimmten Thema sagen und diskutieren, dann werden wir feststellen, dass wir auch im Streit kommunizieren können.

“Viele schreien und argumentieren, bis der andere schweigt. Sie glauben dann, den anderen überzeugt zu haben. Und sie irren sich immer. “

Noel Clarasó

Argumentieren bedeutet, sich mit den Unterschieden auseinandersetzen

Ist argumentieren also vorteilhaft für unsere Beziehungen? Im Allgemeinen vermeiden wir Konfrontationen mit anderen. Trotzdem erfordern menschliche Beziehungen Interaktion und jeder von uns hat seine eigene Denk- und Handlungsweise. Das impliziert Differenzen und Konflikte, denn wir geraten leicht in ein Muster, indem wir von anderen erwarten, dass sie genauso handeln oder denken wie wir.

Erwartungen über das Verhalten unserer Mitmenschen sowie Werturteile über das, was in Ordnung ist oder nicht, führen zu keiner produktiven Konfrontation. Wenn wir von anderen erwarten, dass sie sich so verhalten, wie wir es möchten, oder einfach darauf warten, dass sie ihren Standpunkt ändern, entsteht ein respektloses Kommunikationsumfeld. Dies macht unsere Beziehungen nur komplizierter, weil wir die Person vor uns nicht hinreichend achten. Stattdessen fordern wir unser Gegenüber auf, gemäß unserer eigenen Überzeugungen zu handeln. Es ist wichtig, zu verstehen, dass es nicht falsch ist, anderer Meinung zu sein.

Vorteile des adäquaten Streitens

Es ist wichtig, die zwei Vorteile hervorzuheben, die sich aus dem Vorherigen ergeben. Diese Vorteile sind:

  • Soziale Isolation vermeiden: Argumentieren bedeutet, zu kommunizieren. Alle Arten von Kommunikation erfordern auch das Herstellen einer Beziehung. Wir sind soziale Wesen und als solche brauchen wir Beziehungen zu anderen, um gesund zu bleiben. Darüber hinaus haben wir das Recht, unsere Meinung zu äußern und dafür respektiert zu werden.
  • Unsere Sichtweise verändern: Durch Argumente können wir uns anderen Perspektiven öffnen. Indem wir unterschiedliche Meinungen austauschen, tragen wir keineswegs dazu bei, uns von unserem Gegenüber zu entfernen – stattdessen treten wir in seine Fußstapfen.

Auch wenn dies nicht bedeutet, dass andere unsere Meinung teilen werden, so bringt uns der Austausch von Meinungen näher. Er vereinfacht auch das Finden eines Kompromisses. Um die Position unseres Gegenübers zu verstehen, und die damit verbundenen Emotionen und Einstellungen, ist ein erhebliches Maß an persönlichem Wachstum erforderlich.

“Wir sollten stets bereit sein, ohne Starrsinn zu widersprechen und Widerspruch ohne Irritation zu ertragen. “

Marcus Tullius Cicero

Ein Paar streitet sich.

Wie wir mit Streit umgehen können

Die meisten Probleme in unseren Beziehungen entstehen, weil Anerkennung fehlt.Und ja, es ist nicht immer einfach, mit Menschen umzugehen, die mit unserer Denk- oder Verhaltensweise nicht einverstanden sind. Der Schlüssel liegt darin, zu wissen, wie wir unsere Gedanken ausdrücken und die Gefühle, die aus Konflikten entstehen, regulieren können.

Das Streiten erlaubt uns, unterschiedlichen Meinungen und Perspektiven Raum zu geben, und beim Streiten ist es wichtig, zu vermeiden, passiv oder aggressiv zu antworten. Wir sollten unseren Fokus auf Respekt legen. Dies erfordert ständige Anstrengung und die Markierung gesunder Grenzen in unseren Beziehungen.

Aber wie können wir unseren Standpunkt ausdrücken und dabei die andere Person respektieren? Es gibt drei Möglichkeiten, die uns das Argumentieren erleichtern können:

Aktives und gegenseitiges Zuhören

Um einen Dialog zu führen, ist das Zuhören von entscheidender Bedeutung. Unterbrechen, urteilen, disqualifizieren und ablehnen, was der andere fühlt, schließt die Möglichkeit des Verstehens vollständig aus.

Es ist weiterhin wichtig, auf Körpersprache zu achten, da die Emotionen, die unseren Botschaften zugrunde liegen, oft durch Gesten übertragen werden. Unstimmigkeiten zwischen verbaler und nonverbaler Sprache können uns viele Informationen liefern. Um uns auf das Zuhören vorzubereiten, sollten wir unsere innere Stimme verstummen lassen, wenn jemand mit uns spricht. Wir sollten besser nicht darüber nachdenken, was wir antworten werden, sobald unser Gegenüber aufhört zu reden, denn das hindert uns, die Nachricht des anderen vollständig zu hören.

Durchsetzungsvermögen

Durchsetzungsvermögen ist die Fähigkeit, unsere Überzeugungen auszudrücken, ohne die andere Person zu beleidigen oder uns ihrem Willen zu unterwerfen. Es impliziert die direkte und ausgewogene Mitteilung unserer Gedanken und Emotionen. Wir sollten dabei Selbstvertrauen haben und uns nicht von anderen emotionalen Zuständen wie Angst, Ärger oder Schuld einschränken lassen. Durchsetzungsfähig zu sein, erfordert die Verteidigung unserer Rechte, ohne eine passive, aggressive oder achtungsgebietende Haltung einzunehmen.

Empathie

Empathie ist die Fähigkeit, zu erkennen, zu teilen und zu verstehen, was ein Mitmensch denken oder fühlen könnte. Diese Fähigkeit ermöglicht eine tiefe Kommunikation sowie eine Verbindung zwischen den emotionalen Zuständen der an dem Streit Beteiligten. Es lässt sich verhindern, egoistische Positionen zu beziehen, wenn wir einschätzen können, was der andere fühlt.

Zwei Menschen umarmen sich empathisch und trösten sich gegenseitig.

Zweifellos besteht die Lösung für Konflikte nicht darin, Streit zu vermeiden, sondern Differenzen durch reife Argumentation bewältigen zu können. Der erste Schritt dahin ist, anzunehmen, dass wir nicht die absolute Wahrheit kennen. Das heißt, wir werden niemals alle Fakten kennen können.

“Das Ziel von Debatten oder Diskussionen sollte nicht der Sieg sein, sondern der Fortschritt.”

Joseph Antoine René Joubert


Dieser Text dient nur zu Informationszwecken und ersetzt nicht die Beratung durch einen Fachmann. Bei Zweifeln konsultieren Sie Ihren Spezialisten.