Adoptiert = adaptiert!?

Gastbeitrag einer erwachsenen Frau mit Verlust- und Adoptionserfahrung. Von Mag. Stefanie Mimra
Adoptiert = adaptiert!?
Stefanie Mimra

Geschrieben und geprüft von von der Klinischen- und Gesundheitspsychologin Stefanie Mimra.

Letzte Aktualisierung: 18. April 2023

Adoptiert ist adaptiert… So begann einst ein Gedicht, das ich schrieb, um meine Adoptionserfahrung zu verarbeiten.

Das Gedicht handelt davon, wie ich mich bemühte, mich anzupassen, anzugleichen, zu adaptieren an und in eine Familie, zu der ich nicht zur Gänze gehörte.

Und nie genügte es. Denn „reiß dich doch zusammen“, hieß es. Du könntest mehr leisten, wenn du nur wolltest.

Ich wollte, und zugleich wusste ich, dass es da auch noch Gene gibt. Und nicht nur diese. Auch 9 Monate Schwangerschaft und 5 ganze Lebensjahre mit meinen leiblichen Eltern.

Aber das zählt nicht.

Laut Adoptiveltern zähle das nicht. Wichtig sei, was später kam. Schließlich könne ich mich ja an die ersten Lebensjahre nicht erinnern.

Ja, das stimmt. Ich kann mich erst an das Kinderheim erinnern, in das ich im Alter von fünf Jahren von einem Tag auf den anderen mit einer Fürsorgerin des Landes Oberösterreich und Polizeigewalt hingebracht wurde.

Gründe: Häusliche Gewalt, psychisch kranke Mutter, alkoholkranker Vater.

Ich hatte also allen Grund, zu vergessen. Was ich aber noch aus meinem Psychologiestudium weiß, ist, dass es das sog. Unbewusste gibt. Und dieses Unbewusste wirkt in mir als – teils bereits in Positives gewandeltes – Potenzial weiter.

Die Tatsache, dass meine Adoptiveltern das Unbewusste leugnen, schmerzt mich bis heute, sonst würde ich meinen Beitrag hiermit wohl nicht beginnen.

Aber auch ich selbst sah mich bis Corona „nur“ als „Adoptierte“ und nicht als „Weggegebene“.

Auch ich empfand mich nur halb. Mittlerweile sehe ich uns Adoptierte als „Menschen mit Verlust- und Adoptionserfahrung“.

Während meiner Coviderkrankung im Oktober 2020 hatten meine Leichen im Keller Zeit, sich bemerkbar zu machen. Mir fiel das Buch „Heilungsprozess für Adoptierte“ in die Hände.

Ich erinnere mich, dass ich nur immer einen Absatz auf einmal lesen konnte, weil ich dermaßen hemmungslos schluchzte und dabei um Luft und Überleben rang.

Das war die Geburtsstunde der Einsicht, dass so eine Trennung von Eltern – vor allem der Mutter – höchst schmerzhaft gewesen sein muss. Und diesen schmerzlichen Verlust habe ich betrauert. Ich danke Corona dafür!

Danach gründeten ein ebenso adoptierter Mann und ich eine Gruppe für erwachsene Menschen mit Verlust- und Adoptionserfahrung. Der Austausch ist jedes Mal tief berührend, erleichternd und tröstlich. Endlich versteht mich jemand in diesem Schmerz.

Wenn Adoptiveltern diesen Beitrag lesen, würde ich nun als ersten Rat Folgendes mitgeben:

1. Bitte seien Sie sich bewusst, dass ihr Kind seine Eltern verloren hat und dass natürlich die leiblichen Eltern genetisch und systemisch in Ihrem Adoptivkind weiterwirken.

Da kommt mir sofort ein weiterer Rat in den Sinn:

 2. Sehen Sie die leiblichen Eltern bitte als Potenzial für Ihr Adoptivkind.

Ja, denn obwohl ich so eine schreckliche und traumatische Kindheit hatte, bin ich heute stolz auf und dankbar für meine Lebensgeschichte.

Ich wäre wohl keine so erfolgreiche und kreative Psychologin geworden, wenn mir nicht bereits in den ersten Lebensjahren das „Elend meiner leiblichen Eltern“ vor Augen geführt worden wäre.

Ich hätte wohl keine zwei Alkoholnachsorgegruppen gegründet, wenn mein leiblicher Vater nicht von Alkohol abhängig gewesen wäre.

Ich wäre wohl nicht so bunt und vielfältig und vielseitig, wenn ich nicht zwei Elternpaare hätte.

Vermutlich wäre ich nicht so eine Optimistin, die anderen Mut macht, wenn ich nicht ein Beispiel dafür wäre, dass aus schwersttraumatisierten Kindern „doch etwas werden“ kann.

Letztlich „zwingt“ mich meine Geschichte dazu, meine eigene und eine neue Geschichte zu schreiben, denn ich gehöre weder zu der einen, noch zu der anderen Familie zur Gänze dazu.

Adoptiert = adaptiert? Einsamer Baum symbolisiert Einzelkämpferin

Schattenseiten der Verlust- und Adoptionserfahrung gibt es dennoch zahlreiche:

1. Alleinkämpferin

Zum Beispiel bin ich beruflich eine Allein“kämpferin“. Ich hatte nie ein Team. Ich tue mir schwer, Verantwortung abzugeben, loszulassen, mich einzufügen. Immer muss ich „herausragen“, aus Angst, unterzugehen, nicht gesehen zu werden.

Das, was ich hier üben darf, ist mich in Teams, Gruppen, Beziehungen einzulassen, anstatt aus ihnen herauszuragen oder gar mich darüberzustellen. Ich übe, mir Hilfe zu holen, mich vom Hoch- in den Tiefstatus (so würde man das im Improtheater nennen) zu begeben.

2. Auffallen

Wäre ich mit fünf Jahren durch mein Temperament nicht so „auffallend“ und aus der Menge „herausragend“ gewesen, hätte mich meine spätere Adoptivmutter wohl nicht entdeckt, ab diesem Zeitpunkt immer wieder mal mit nach Hause genommen und schließlich mit ihrem Mann gemeinsam adoptiert.

Das darin verborgene Heilungspotenzial heißt wohl: „Ich sehe dich, kleine Steffi!“ Ich brauche nicht mehr aufzufallen, um zu überleben. Ich darf mich „normal“ verhalten, auch mal still und im Hintergrund sein, atmen, einfach da sein und die Gemeinschaft genießen, in der ich mich gerade befinde. Und Gott sei Dank bin ich ja 185 m groß geworden, also rage ich ja so und so meist aus einer Menge heraus.

3. Willkommen sein

Eine weitere Schattenseite ist mit Sicherheit mein immer noch latentes Minderwertigkeitsgefühl und die damit zusammenhängende Angst, nicht willkommen, sondern abgelehnt zu sein. Nicht dazuzugehören, sondern Außenseiterin zu sein. Dazu kommt mir in den Sinn, dass ich als Volksschulkind meine Freundin nur für mich hatte, wenn wir zu zweit spielten. Sobald auch andere Kinder dabei waren, hatte ich das Gefühl, meine Freundin würde nicht mehr zu mir halten und die Gruppe würde mich ausgrenzen. Ein wunder Punkt bis heute, wie ich soeben spüre. Sobald mir in einer Gruppe jemand keine Aufmerksamkeit (mehr) schenkt, stelle ich rasch meine Existenzberechtigung in Frage.

Darin liegt folgendes Heilungspotenzial: Ich darf mir selbst Aufmerksamkeit schenken und „Willkommen“ denken. Ich bin mir selbst willkommen und darf für mich sorgen. Die Atemfokussion ist ohnedies hierfür seit Jahren mein Anker und Retter für achtsame Präsenz im Hier und Jetzt.

4. Spaltung und Verlustangst

Eine der für mich größten Herausforderungen ist die Tatsache, dass ich leicht vergesse und dass ich in mir wenig „roten Faden“ spüre. Ich bringe dazu oft das Bild von Eisschollen, die am Meer schwimmen, und ich springe von Eisscholle zu Eisscholle. Bin ich auf der einen Eisscholle, weiß ich aber nichts mehr von der anderen Eisscholle usw. Es fehlt die Verbindung zwischen den Eisschollen, so wie die Verbindung zwischen meinen leiblichen und Adoptiveltern fehlte, weil sie sich nie kennengelernt hatten. Verständlich, dass mit diesem Eisschollenerleben eine Verlustangst einhergeht. Sobald ich eine Eisscholle verlasse, habe ich Angst, sie zu vergessen, zu verlieren, eben abzuspalten.

Adoptiert = adaptiert? Gänseblümchen symbolisiert Einzelkämpferin

Also brauche ich viel Sicherheit und Bestätigung, dass das, was ich auf einer Eisscholle erlebte, wirklich wahr war. Ich hatte zwei Herkünfte und denke, dass ich zur Zeit „zwei Leben“ lebe… also auf zwei Eisschollen bin. Unter der Woche bin ich allein bei mir in Salzburg zu Hause. Am Wochenende bin ich in Bayern bei meinem Freund. Unter der Woche achte ich darauf, meiner Verlustangst keinen zu großen Raum zu geben. (In genau diesem Moment kommen mir die Tränen.) Mein fehlendes Urvertrauen, eine vermutlich unsicher ambivalente Bindung zu meiner leiblichen Mutter suggerieren mir, dass ich wohl wieder verlassen werde oder ich kein Vertrauen an eine Kontinuität – sichere Bindung – habe.

Das, was hier geheilt werden darf, ist, dass ich mich selbst nicht abspalte. Dass ich meine Emotionen einbringe, anstatt sie wegzurationalisieren. „Ich darf bleiben“ ist ein Mantra, das ich mir immer wieder sage. Auch bitte ich meinen Freund, mir diese Worte immer mal wieder zu sagen. „Stefanie, du darfst bleiben“ im Sinne von: Du darfst hierbleiben, du darfst bei mir bleiben, du darfst spüren, abwarten, dich einlassen, vertrauen.

In einem spirituellen/geistigen Weg die Verbundenheit anstatt nur abgespaltene Eisschollen zu spüren, ist vermutlich der Königsweg. Das Wasser ist das, was sowohl die Eisschollen als auch das Meer darunter verbindet. Lege ich mein Bewusstsein dorthin, bin ich EINS. Bleibe ich mit meinem Bewusstsein auf einer Eisscholle hängen, fühle ich mich getrennt.

Mir hilft zudem das Bewusstsein, dass sich meine Seele dieses Leben ausgesucht hat. Ich müsste mich also bei meiner Seele beschweren, würde ich mein Leben ablehnen oder hassen.

Zu meinen stärksten Ressourcen zählen neben der spirituellen Sicht die Fähigkeit zur Selbstreflexion (vielleicht weil rund um jeder Eisscholle so viel Raum ist, aus dem heraus ich einen guten distanzierten Blick auf jede Eisscholle haben kann).

Großartig finde ich die Methode des Monodramas, bei der ich mit meinem inneren Kind arbeite. Ich nehme eine reale Puppe auf den Schoß und rede mit ihr. Ich sage ihr genau die heilsamen Sätze, die ich als Kind wohl gern gehört habe. Das mache ich genau dann, wenn mein Alltag in mir etwas von früher triggert.

Sätze, die jedes (innere) Kind gern hört, sind z.B. folgende:

  • Steffi, du bist willkommen.
  • Ich nehme dich an, so wie du bist.
  • Ich halte dich.
  • Ich pass auf dich auf.
  • Ich sehe dich.
  • Ich wertschätze dich.
  • Ich sorge für dich.
  • Ich liebe dich.

Mein Beruf als Psychologin hilft mir, an psychologischen Themen grundsätzlich dranzubleiben und mir ab und zu selbst eine psychologische Stunde zu gönnen.

Nicht zuletzt helfen mir das Improvisationstheater und der argentinische Tango, mich einzulassen, mich führen zu lassen, mich auszudrücken und verbunden zu fühlen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Stefanie Mimra

www.psychologin.mimra.eu

Titelbild mit freundlicher Genehmigung der Autorin.


Dieser Text dient nur zu Informationszwecken und ersetzt nicht die Beratung durch einen Fachmann. Bei Zweifeln konsultieren Sie Ihren Spezialisten.