Zwischenmenschliche Bindungen und die Angst vorm Verlassenwerden

Zwischenmenschliche Bindungen und die Angst vorm Verlassenwerden
Gema Sánchez Cuevas

Geschrieben und geprüft von der Psychologe Gema Sánchez Cuevas.

Letzte Aktualisierung: 28. Januar 2023

Wir wollen uns in allen Bereichen unseres Lebens sicher und geborgen fühlen, denn dies ist unerlässlich, um uns wohlzufühlen. Vor allem in Beziehungen zeigen wir ein großes Bedürfnis nach Liebe und Geborgenheit. Wenn wir uns sicher fühlen, dann können wir uns geschützt fühlen und auch Vertrauen haben. Wenn diese Sicherheit jedoch von den Geistern der Vergangenheit bedroht wird, werden wir mit Angst reagieren. Tatsächlich haben wir dann große Angst vor dem Verlassenwerden.

Die Unsicherheit, die die Angst vor dem Verlassenwerden erzeugt, kann eine Beziehung vergiften. Dies gilt insbesondere, wenn der Ursprung unserer Angst in einer schwierigen Kindheit liegt. Wenn wir diese obsessive Angst hegen, dann können wir unbeabsichtigt unserer Beziehung schaden und die Vermutungen des Partners, die er eventuell bereits über uns hatte, nur bestätigen. Auf der anderen Seite kann die Beziehung so zerstörerisch werden, dass beide Partner in einer Spirale von Leid und Unbehagen gefangen werden.

Es ist normal, gelegentlich daran zu zweifeln, dass unsere Beziehung gut funktioniert. Doch immer wieder misstrauisch zu sein und überempfindlich zu reagieren, weil man Angst hat, verlassen zu werden, führt zu Unbehagen und Instabilität in einer Beziehung. Werfen wir deshalb einen genaueren Blick darauf, woher die Angst vor dem Verlassenwerden kommt.

Die Bedeutung der Bindungsfähigkeit

In unserem ersten Lebensjahr stellen wir eine emotionale Bindung zu unserer engsten Bezugsperson her. Durch diese Beziehung und die Art der Bindung, die wir zu ihr aufbauen, erwerben wir eine Reihe von emotionalen Fähigkeiten. Diese bringen wir in unseren zukünftigen zwischenmenschlichen Beziehungen zum Einsatz.

Doch wenn diese Bindung in den ersten Lebensjahren nicht erfolgt, kann dies in unserer Zukunft zu großen Problemen führen. Sollte dies in unserer Kindheit der Fall gewesen sein, dann mussten wir schon früh lernen, erwachsen zu werden. Im Umkehrschluss kann dies bedeuten, dass wir uns schnell ungeschützt und unsicher fühlen oder sogar vermehrt misstrauisch gegenüber anderen sind. Dies sind Konsequenzen, die in Bowlbys Bindungstheorie erklärt werden. John Bowlby entwarf diese Theorie, um zu erklären, warum viele Menschen ein tiefes Gefühl der Verlassenheit empfinden, obwohl sie von ihren Lieben umgeben sind. Schauen wir uns ein Beispiel an, um Bowlbys Theorie besser zu verstehen.

Ein Mädchen weint.

Das hungrige Baby

Ein Baby hat Hunger, weil es seit mehreren Stunden nicht gegessen hat. Sein Instinkt sagt ihm, dass es hungrig ist. Das Einzige, was das Baby jedoch tun kann, ist, zu schreien. Seine Mutter, in diesem Fall die engste Bezugsperson, fängt die Signale ein, die das Baby aussendet, um zu zeigen, dass es hungrig ist. Die Mutter hat gelernt, die körperlichen und emotionalen Bedürfnisse ihres Babys zu erkennen und sie zu akzeptieren. Sie wird durch ihre Aktionen sowohl das physiologische als auch das emotionale Gleichgewicht des Babys wiederherstellen.

Wenn das Baby diese Art von Erfahrungen kontinuierlich macht, wird es regelmäßig nach physischer Nähe zu seiner Mutter suchen. Es vertraut darauf, dass sie es beruhigt und sein Gleichgewicht wiederherstellen kann. Später in seiner Entwicklung wird das Kind dann in der Lage sein, unangenehme Erfahrungen zu ertragen, allein wegen der Tatsache, dass es seine Mutter auf sich zukommen sieht. Das Gleiche gilt auch für den Fall, dass die Mutter fortgeht und sagt: “Ich bin gleich wieder zurück.”

Wenn es als Erwachsener in eine ähnliche Situation kommt, verfällt dieser Mensch nicht in Panik. Denn er weiß, dass er in ein paar Stunden seinen Partner oder Freunde wiedersehen wird. Er hat gelernt, diese Situation auszuhalten, denn er weiß, dass seine Gefühle keine permanenten Empfindungen sein wird. 

Wenn wir in der Kindheit diese Erfahrung nicht gemacht haben, dann werden wir uns in einer solchen Situation auch als Erwachsene schwertun. Wir werden uns in einer intimen Beziehung nicht sicher fühlen, weil wir nicht gelernt haben, Vertrauen aufzubauen. 

Darüber hinaus führt die Abwesenheit von menschlichem Kontakt und Mangel an Pflege zu einer höheren Produktion von Adrenalin. Dies prädisponiert uns zu aggressivem, impulsiven Verhalten und macht es schwierig für uns, unsere Emotionen zu kontrollieren.

Ein Junge schaut durch ein Fenster

Die emotionalen Wunden des Verlassenwerdens bei Paaren

Wie wir sehen, gibt es seelische Wunden, die uns in unserer Kindheit zugefügt wurden und die immer noch in uns lauern. Diese Wunden können viele Bereiche unseres Lebens beeinflussen. Viele unangenehme Situationen, die wir in der Kindheit erleben, hinterlassen Spuren in uns. Wenn diese unbehandelt bleiben, können sie uns in der Gegenwart stark prägen.

Bowlby stellte in seiner Bindungstheorie fest, dass die in der Kindheit gebildeten emotionalen Bindungen in der Welt des Erwachsenen in Form von Modellen fortbestehen. Dies wurde auch von Hazan und Shave in Untersuchungen bestätigt. Die beiden Forscher zeigten, dass sich erwachsenes Verhalten in Beziehungen auf Basis der Wahrnehmung und Denkmuster formt, die in der Beziehung zwischen dem Kind und seinen Eltern erschaffen wurden.

Wir sehen also, dass die Angst vor dem Verlassenwerden in Beziehungen ihre Wurzeln in der Kindheit haben kann. Sie sind die Geister der Vergangenheit, die zurückkehren. Dann werden wir von unseren eigenen Unsicherheiten heimgesucht. Sie versuchen, uns daran zu erinnern, dass wir es nicht wert wären, Liebe zu finden oder gut behandelt zu werden. 

Emotionale Bindung

Ein Wort, ein Ort, ein bestimmtes Verhalten oder Erinnerungen reichen aus, um eine “Notfallsituation” in uns zu erzeugen, wenn wir an Bindungsängsten leiden. Gewöhnlich folgt dem eine ganze Lawine von Emotionen und Verhalten, die wir als Betroffene zeigen. Zum Beispiel Apathie und Traurigkeit, um nur zwei zu nennen.

Ein Paar umarmt sich.

Außerdem entwickeln Betroffene normalerweise eine emotionale Abhängigkeit gegenüber ihrem Partner. Sie brauchen die ständige Zustimmung des Geliebten. Selbst wenn ihre Beziehung toxisch ist, sind Betroffene unfähig, diese zu beenden bzw. können sich nicht distanzieren. Wenn wir betroffen sind, dann gehen wir davon aus, wir wären nichts ohne den Partner. Wir glauben, wir müssten absolut alles tun, um die Beziehung aufrechtzuerhalten. Dies tun wir nur, um bloß nicht die Wunden aus unserer Kindheit wieder aufzureißen.

In manchen Fällen erzeugt diese Angst vor dem Verlassenwerden eine Art Sucht nach dem Mangel an Selbstwert und Sehnsucht nach Herabwürdigung. Da wir uns nicht gewollt oder sicher fühlen, müssen wir uns bestätigen lassen, dass unsere Identität immer noch intakt ist. Deshalb, wenn wir endlich Schutz und Sicherheit in einer Beziehung finden, mögen wir unser Glück gar nicht glauben und lehnen es ab. All dies kann auf tief sitzende emotionale Wunden zurückgeführt werden.

Die Angst vorm Verlassenwerden

Die Angst vor dem Verlassenwerden ist eine sehr tiefe emotionale Wunde, die uns in unserer Kindheit zugeführt wurde. Die Heilung dieser Wunde bedarf des Akzeptierens der eigenen Vergangenheit wie auch aktives Vergeben, um diese schmerzhafte Vergangenheit loszulassen. Dies ist eine komplexe Aufgabe. Vor allem, wenn wir nicht wissen, wie wir durch unsere früheren Erfahrungen konditioniert wurden. Es ist schwierig, die Schutzmechanismen, die wir für unser verletztes Selbst gebildet haben, zu überwinden.

In der Tat ist es in sehr komplexen Fällen ratsam, zu einem Psychologen zu gehen. Dieser kann uns helfen und erste wichtige Schritte einleiten. Ein weiterer Aspekt, an dem gearbeitet werden muss, ist unser Selbstwertgefühl. Es ist in der Regel fragmentiert, vielleicht auch gar nicht vorhanden. Zu lernen, sich selbst zu schätzen, ist aber essenziell, um aus der Falle der emotionalen Abhängigkeit zu entkommen. Darüber hinaus wird es mit größerem Selbstwertgefühl viel einfacher sein, die Emotionen und Gedanken, die in unseren vergangenen Erfahrungen verankert sind, zu bewältigen.

Unsere Emotionen verändern

Gefühle wie Wut, Groll, Angst oder Traurigkeit sind sehr häufig bei Betroffenen, die Angst haben, verlassen zu werden. Wir müssen aber lernen, ihre Intensität zu reduzieren und versuchen, zu entziffern, was diese Gefühle wirklich meinen. Wenn wir dies tun, können wir unsere negativen Emotionen in positive Gefühle umwandeln.

Negative Gedanken und Erwartungen sind ebenfalls Elemente, die berücksichtigt werden müssen. Meistens sind es unsere Gedanken, die Einfluss auf unsere Ängste haben bzw. diese erhöhen. Sie lassen dieses Problem der Angst als unüberwindbar erscheinen. Wenn wir Angst haben, dass unser Partner uns verlässt, werden wir sein Verhalten und seine Worte auf eine versteckte Bedeutung hin untersuchen. Wir werden sie oft falsch interpretieren, was dazu führt, dass wir die Ängste in uns nur bestätigen.

Eine Person hält ein Origami-Herz in der Hand.

Wie wir sehen können, beinhaltet die Heilung der Angst vor dem Verlassenwerden einen Prozess des Wiederaufbaus. Dies ist ein Prozess, der Zeit benötigt. Wir müssen lernen, unsere Ängste zu erkennen. Außerdem gibt es etwas, xas wir nicht vergessen dürfen: Bei vielen Gelegenheiten ist das, was wir über unsere Umwelt denken, nicht mehr als eine Projektion dessen, was in uns geschieht.

Solltest du, lieber Leser, selbst verstärkt unter der Angst des Verlassenwerdens leiden und sollte diese zu Problemen in zwischenmenschlichen Beziehungen führen, kann es hilfreich sein, dir therapeutische Hilfe zu holen.


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