Wie du in Fällen von Eltern-Kind-Entfremdung vorgehen kannst

Ein Gastbeitrag von Markus Witt, Experte für hochstrittige Trennungskonflikte von Eltern
Wie du in Fällen von Eltern-Kind-Entfremdung vorgehen kannst
Markus Witt

Geschrieben und geprüft von Zertifizierter Mediator und Experte für hochstrittige Trennungskonflikte von Eltern Markus Witt.

Letzte Aktualisierung: 21. April 2023

Was ist Eltern-Kind-Entfremdung

Nicht jede Form von Kontaktabbruch zwischen einem Kind und einem Elternteil ist Eltern-Kind-Entfremdung. Eltern und Kinder können sich auseinanderleben, es kann berechtigte Gründe wie Gewalt oder Missbrauch für einen Kontaktabbruch geben oder aber auch den Rückzug eines Elternteils aus der Beziehung zu seinem Kind. Diese Formen von Kontaktabbruch sind deutlich von Eltern-Kind-Entfremdung abzugrenzen.

Eltern-Kind-Entfremdung ist die Folge von Verhaltensweisen, die meist in Folge von Trennung und Scheidung ein Elternteil (seltener auch beide) gegenüber einem Kind zeigt. Diese Verhaltensweisen sind geeignet, die Beziehung des Kindes zum anderen Elternteil zu stören und zu unterwandern und Misstrauen des Kindes gegenüber dem abgelehnten Elternteil zu verursachen.

Eltern-Kind-Entfremdung ist ein Entwicklungsprozess. Erst an dessen Ende steht häufig ein Kontaktabbruch zu einem Elternteil. Daher ist frühzeitige Intervention von entscheidender Bedeutung. Die Entwicklungsgeschwindigkeit ist abhängig von der Intensität der angewandten Verhaltensweisen, der Resilienz des Kindes und der Qualität und Quantität der Beziehung des Kindes zum abgelehnten Elternteil.

Eltern-Kind-Entfremdung ist eine Form schweren psychischen Missbrauchs an Kindern. Dies wurde auch vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anerkannt (Pisica ./. Moldawien, 23641/17 vom 29.10.2019)[1].

Eltern-Kind-Entfremdung ist keine Krankheit, sondern eine strafbare Gewaltform gegen Kinder. Die Auswirkungen von Eltern-Kind-Entfremdung können jedoch Auswirkungen mit Krankheitswert haben (z.B. Depressionen, Beziehungs-, dissoziative und Persönlichkeitsstörungen). Im Verhältnis Eltern-Kinder lassen sich die Folgen von Eltern-Kind-Entfremdung häufig am ehesten unter der ICD-10-Codierung QE 52.0 Caregiver-child-relationproblem einordnen.

Eltern-Kind-Entfremdung ist ein wissenschaftlich umfangreich erforschtes Thema mit ca. 1.300 wissenschaftlichen Arbeiten weltweit[2].

Kind leidet an Eltern-Kind-Entfremdung

Wie entsteht Eltern-Kind-Entfremdung?

Eltern-Kind-Entfremdung kann auf unterschiedliche Weisen entstehen. So kann sie bewusst oder unbewusst erfolgen. Gründe können Angst, Wut, Hass oder andere Emotionen sein, die sich sowohl auf das Kind als auch auf die Paar-Situation beziehen können. Häufig sind auch Traumata aus der Kindheit des Elternteils mit ursächlich.

Auch der Wunsch, das Kind zu schützen, kann ein Grund für Eltern-Kind-Entfremdung sein. Die Sorge, dass es beim anderen Elternteil nicht gut versorgt ist oder die Annahme, es könne Gewalt und Missbrauch vorgelegen haben, können zu einer Entfremdung führen. Lägen diese tatsächlich vor, wären Maßnahmen zum Schutz des Kindes im Kontakt mit dem abgelehnten Elternteil durchaus berechtigt. Sind dies aber Fehlannahmen, schlägt der vermeintliche Schutz des Kindes ins Gegenteil um, nämlich in psychischen Missbrauch des entfremdenden Elternteils gegenüber dem Kind und auch dem entfremdeten Elternteil.

Häufig findet Eltern-Kind-Entfremdung auch infolge eines nicht aufgearbeiteten Paar-Konfliktes statt. Die eigenen Emotionen gegenüber dem Ex-Partner / der Ex-Partnerin werden auf das Kind übertragen. Die Folgen für das Kind werden dann entweder nicht wahrgenommen oder aber – schlimmer – als vertretbarer Kollateralschaden betrachtet.

Eltern-Kind-Entfremdung in der hier diskutierten Form kann auf viele, unterschiedliche Arten entstehen, beinhaltet aber immer einen aktiven (nicht immer bewussten) Anteil des entfremdenden Elternteils.

Wie du Eltern-Kind-Entfremdung erkennen kannst

Eltern-Kind-Entfremdung kannst du relativ einfach schon in einem frühen Stadium erkennen. Indikatoren sind Verhaltensweisen von Elternteilen gegenüber dem Kind und dem anderen Elternteil sowie die Entwicklung der Beziehung des Kindes zu seinen Elternteilen.

Elterliche, entfremdende Verhaltensweisen

Typische entfremdende Verhaltensweisen wurden von der amerikanischen Psychologin Dr. Amy Baker[3] beschrieben:

Die 17 primären Entfremdungsstrategien des entfremdenden Elternteils sind:

  1. Schlechtreden des abgelehnten Elternteils
  2. Kontaktreduzierung
  3. Störung der Kommunikation zwischen Kind und abgelehntem Elternteil
  4. Verhinderung symbolischer Kommunikation (Dinge, die das Kind positiv an den abgelehnten Elternteil denken lassen)
  5. Liebesentzug
  6. Dem Kind sagen, der andere Elternteil wäre gefährlich
  7. Das Kind zwingen, zu entscheiden
  8. Dem Kind sagen, dass der andere Elternteil es nicht mehr lieben würde
  9. Das Kind bezüglich der Belange der Erwachsenen ins Vertrauen ziehen
  10. Das Kind dazu nötigen, den anderen Elternteil abzulehnen
  11. Das Kind dazu anhalten, den anderen Elternteil auszuspionieren
  12. Das Kind bitten, Geheimnisse vor dem anderen Elternteil zu bewahren
  13. Den anderen Elternteil beim Vornamen und nicht mit „Mama“ oder „Papa“ zu benennen
  14. Einen Stiefelternteil als „Mama“ oder „Papa“ bezeichnen und das Kind dazu auffordern, dies ebenfalls zu tun
  15. Medizinische, schulische oder andere wichtige Informationen vorenthalten, den Namen des abgelehnten Elternteils auf Dokumenten nicht angeben
  16. Den Namen des Kindes ändern, um die Verbindung zum anderen Elternteil zu reduzieren
  17. Abhängigkeiten kultivieren und die Autorität des anderen Elternteils untergraben

Wichtig ist, dass nicht alle diese 17 Verhaltensweisen vorliegen müssen. Bereits wenige können ausreichend sein, die Beziehung eines Kindes zu einem Elternteil schwer zu schädigen und zu Eltern-Kind-Entfremdung zu führen.

Trauriges Kind am Fenster leidet an Eltern-Kind-Entfremdung

Kindliches Verhalten

Im Verlauf von Eltern-Kind-Entfremdung kannst du anfangs bei noch funktionierenden Kontakten Verunsicherungen in der Beziehung der Kinder zum abgelehnten Elternteil feststellen. Es stellen sich Probleme bei den Wechseln von einem zum anderen Elternteil ein. Umgangskontakte werden schwieriger, finden aber meist noch statt und können dann vom Kind auch noch genossen werden. Parallel zeigen sich bei Kindern oft aber bereits psychosomatische Auffälligkeiten und Veränderungen im schulischen und Sozialverhalten.

Kommt es zu einem auch vom Kind verbal geäußerten Kontaktabbruch, handelt es sich bereits um eine kritische Entwicklung mit der dringenden Notwendigkeit, zu handeln.

Wenn im Verlauf eines Eltern-Kind-Entfremdungsprozesses ein Kind den Kontakt zu einem Elternteil verbal ablehnt, dann meist nicht, weil es diesen Elternteil nicht mehr sehen möchte. Es ist ein Signal, dass es den auf ihm lastenden Druck nicht mehr aushalten kann oder es den realen Bezug zur Beziehung zum abgelehnten Elternteil verliert, weil es vom entfremdenden Elternteil widersprüchliche Informationen (verbal / nonverbal) erhält.

Die verbal geäußerte Ablehnung eines Elternteils durch ein Kind, ohne dass es hierfür belastbare Gründe im Verhalten des abgelehnten Elternteils gibt, ist daher vor allem ein Hilferuf des Kindes, dem Druck nicht länger Stand halten zu können. Wird dem Kind nicht spätestens in dieser Situation geholfen, bleibt diesem als einziger, sich selbst schützender Ausweg nur noch der Abbruch des Kontaktes zum abgelehnten Elternteil.

Es ist wichtig zu verstehen, dass ein solcher Kontaktabbruch nicht (ursächlich) im Zusammenhang mit dem Verhalten des abgelehnten Elternteils steht, sondern mit dem Verhalten des hauptbetreuenden Elternteils.

Wird nun das Kind aber dem beeinflussenden und entfremdenden Elternteil überlassen, wird dem Kind dadurch der Druck nicht genommen, sondern dieser im Gegenteil sogar noch erhöht.

Für Kinder gibt es keine eigene Möglichkeit, die Situation selbst positiv zu lösen. Daher ist es elementar wichtig, dass Kinder in Fällen von Eltern-Kind-Entfremdung frühzeitig Hilfe von außen erhalten, um sie zu entlasten und zu schützen.

Toxische Eltern machen Kinder traurig, Kind leidet an Eltern-Kind-Entfremdung

Das 5-Faktor-Modell zur Erkennung von Eltern-Kind-Entfremdung

Eine Herausforderung, vor der du häufig in Verdachtsfällen von Eltern-Kind-Entfremdung stehen wirst, ist, dass die Sichtweisen des einen nicht mit den Sichtweisen des anderen Elternteils übereinstimmen. Während der meist hauptbetreuende Elternteil das Verhalten des Kindes als völlig normal und angemessen als Reaktion auf das Verhalten des abgelehnten Elternteils betrachtet, sieht der abgelehnte Elternteil den Grund im Verhalten des meist hauptbetreuenden Elternteils.

Du kannst und solltest diese unterschiedlichen Sichtweisen der Eltern einem Realitäts-Check unterziehen. Dieser hilft dir, Eltern-Kind-Entfremdung von anderen Entfremdungs-Formen zu unterscheiden und die richtigen Maßnahmen und Schlussfolgerungen abzuleiten.

Bewährt hat sich hierfür das 5-Faktor-Modell zur Erkennung von Eltern-Kind-Entfremdung[4]. Alle fünf Faktoren müssen vorliegen, damit von Eltern-Kind-Entfremdung gesprochen werden kann.

Faktor 1: Das Verhalten des Kindes

Es muss ein den Kontakt oder die Beziehung zum anderen Elternteil ablehnendes Verhalten des Kindes vorliegen.

Faktor 2: Das Vorhandensein einer früheren, positiven Beziehung zwischen dem Kind und dem nun abgelehnten Elternteil

Dies bedeutet, dass unabhängig davon, welche Mängel oder Schwächen der zurückgewiesene Elternteil hat, diese nicht damit zusammenpassen, dass er / sie ein sicherer, liebevoller und präsenter Elternteil bis zum Beziehungsabbruch war. Nachweisen lässt sich dies durch Fotos, Videos, sonstige Aufzeichnungen und auch durch Berichter dritter Personen.

Falls es keine frühere positive Beziehung zum abgelehnten Elternteil gab, kann man nicht von einer induzierten Eltern-Kind-Entfremdung sprechen.

Faktor 3: Das Fehlen von Vernachlässigung und Missbrauch durch den abgelehnten Elternteil

Eltern-Kind-Entfremdung bezieht sich nur auf Situationen der ungerechtfertigten Ablehnung eines Elternteils. Kindesmisshandlung, Gewalt und Missbrauch würden einen gerechtfertigten Grund der Ablehnung darstellen.

Dies bezieht sich nicht auf Vorwürfe, die in Fällen von induzierter Eltern-Kind-Entfremdung sehr häufig vorkommen können, sondern nur auf tatsächliche Feststellungen, dass Missbrauch/Vernachlässigung stattgefunden hat.

Meist lehnen Kinder selbst einen missbrauchenden Elternteil nicht ab. Tun sie dies doch, geht man nicht von induzierter Eltern-Kind-Entfremdung aus, da es einen die Ablehnung rechtfertigenden, objektivierbaren Grund in der Person des abgelehnten Elternteils gibt.

Faktor 4: Der bevorzugte Elternteil wendet die 17 primären Strategien entfremdender Elternteile an

Diese bereits zuvor aufgeführten 17 Verhaltensweisen zeigen auf, wie entfremdet wird. Wie kann ein Elternteil ein Kind mit einer guten und liebevollen Beziehung zum anderen Elternteil so gegen den anderen Elternteil aufbringen, dass das Kind falsche Gedanken und Gefühle hat, dass der andere Elternteil unsicher, lieblos und nicht verfügbar sei, wenn dies nicht der Fall ist?

Diese 17 Strategien funktionieren, weil die meisten menschlichen Verhaltensweisen aus unterschiedlichen Sichtweisen betrachtet werden können.

  • Ein Veganer kann ein verrückter Fanatiker mit grenzwertigen Ideen sein oder jemand, der sich gesund ernähren oder den Tieren und dem Planeten etwas Gutes tun will.
  • Ein Elternteil, der nach einer Trennung den Kontakt zu seinem Kind sucht, kann als aufmerksam und interessiert oder aber als Stalker dargestellt werden.
  • Ein Elternteil, der sich bei seinem Kind nach einer Trennung nicht meldet, kann so gesehen werden, dass er dem Kind den nötigen Raum lässt oder aber, dass er das Kind verstoßen oder aufgegeben hat.

So kann der bevorzugte Elternteil Dinge, die der andere Elternteil wirklich tut, für das Kind als Beweis dafür interpretieren, dass der andere Elternteil unsicher, lieblos und unerreichbar ist. Früher dachten wir, dass der begünstigte Elternteil sich Dinge aus dem Nichts ausdenkt, aber es ist effektiver und wirkungsvoller, Dinge, die wirklich geschehen, so umzudeuten und umzuinterpretieren, dass das Kind wirklich Gefühle dafür hat, weil das Kind selbst die Erfahrung gemacht hat, sodass die Wut oder Verletzung gegenüber dem zurückgewiesenen Elternteil innerlich und authentisch ist.

Diese 17 entfremdenden Verhaltensweisen

  • schaffen Nähe und Zusammenhalt mit dem Elternteil, der diese Verhaltensweisen anwendet
  • schaffen Distanz zwischen dem Kind und dem anderen Elternteil
  • schüren einen Konflikt zwischen dem Kind und dem anderen Elternteil

Alle Techniken zielen auf die Unterwanderung der Autorität des anderen Elternteils ab und auf die Deprivation seiner Beziehung zum Kind. Nicht alle Techniken müssen in einem Fall beobachtbar sein, es reichen bereits wenige. Es kommt darauf an, wie effektiv der entfremdende Elternteil die Techniken einsetzt.

Faktor 5: Die 8 Verhaltensmerkmale eines Kindes bei induzierter Eltern-Kind-Entfremdung

Es gibt 8 Verhaltensweisen, die einzigartig und spezifisch für Eltern-Kind-Entfremdung sind (alle 8 in extremer Ausprägung). Sie werden so nicht einmal bei Kindern beobachtet, die mäßig oder schwer körperlich missbraucht wurden.

  • Unbegründete Zurückweisungs- und Verunglimpfungskampagnen
  • Absurde Rationalisierungen
  • Fehlen von normaler Ambivalenz
  • Reflexartige Parteinahme für den programmierenden Elternteil
  • Ausweitung der Feindseligkeit auf die gesamte Familie und das Umfeld des zurückgewiesenen Elternteils
  • Das Phänomen der „eigenen Meinung“
  • Verleugnung von Schuldgefühlen über die Grausamkeit gegenüber dem entfremdeten Elternteil
  • Übernahme „geborgter Szenarien“

Wichtig: Allein aus der Ablehnung eines Elternteils durch ein Kind kann nicht automatisch darauf geschlossen werden, ob eine Eltern-Kind-Entfremdung vorliegt oder nicht. Es ist wichtig, die der Ablehnung zugrundeliegenden Gründe zu ermitteln. Induzierte Eltern-Kind-Entfremdung kann anhand des 5-Faktor-Modells nachgewiesen werden.

Was unterscheidet Eltern-Kind-Entfremdung von anderen Entfremdungs-Formen?

Im Laufe des Lebens entfremden wir uns von Freunden, Kollegen und auch von Familienmitgliedern. Gründe dafür können z.B. Entfernung, unterschiedliche Lebensverläufe und Vorstellungen oder Verhalten sein. Was also ist bei Eltern-Kind-Entfremdung anders?

Kinder haben seit jeher ein überlebenswichtiges Urvertrauen zu Mutter und Vater. Dort finden sie Sicherheit und die Gewissheit, dass Mama und Papa ihnen nichts Böses wollen. Wird dieses Urvertrauen geschädigt, kann dies zu erheblichen Beziehungs- und Bindungsproblemen und psychischen Folgestörungen wie Depressionen, Angstzuständen und ähnlichem führen.

Wird dieses Urvertrauen durch Fehlverhalten des abgelehnten Elternteils verletzt, z.B. durch Vernachlässigung, Gewalt oder Missbrauch, haben die Kinder eine eigene, nachvollziehbare Erklärung für die Ablehnung. Nicht so jedoch bei Eltern-Kind-Entfremdung.

Bei Eltern-Kind-Entfremdung wird Kindern ein Bild des abgelehnten Elternteils vermittelt, welches nicht mit den eigenen Wahrnehmungen des Kindes übereinstimmt. Dem Kind wird – direkt oder indirekt – vermittelt, seine eigenen Gefühle gegenüber dem abgelehnten Elternteil nicht frei äußern zu dürfen oder dafür Ablehnung zu erfahren. Seine eigenen Wahrnehmungen stehen im Widerspruch zu dem, was der beeinflussende Elternteil dem Kind vermittelt. Ein Elternteil, zu dem das Kind ein Urvertrauen hat – dieser wird ihm doch nichts Böses wollen, also müssen die Erzählungen doch wahr sein, oder?

Kinder geraten so in Loyalitätskonflikte, die sie in eine innere Zerrissenheit bringen und in der sie ihren eigenen Wahrnehmungen und Emotionen nicht mehr vertrauen, diese nicht mehr einordnen können.

Für Kinder gibt es in einer solchen Situation keine guten Lösungen. Ihnen bleibt nur die Wahl zwischen

  • einer Erhöhung des Drucks durch den beeinflussenden Elternteil
  • dem Konflikt mit dem abgelehnten Elternteil oder
  • dem Verlust des abgelehnten Elternteils.

Mit der Ablehnung des Elternteils lehnen Kinder zugleich die Hälfte ihrer eigenen Herkunft und Abstammung ab. Sie bestehen jeweils zur Hälfte aus Mama und Papa. Lehnen sie einen von beiden als schlecht ab oder wird ihnen dies so vermittelt, dann ist auch die Hälfte des eigenen Ichs des Kindes schlecht.

Das Bild vom „zerrissenen Kind“ wird in einer solchen Situation noch einmal überdeutlich. Psychologisch gesehen spalten Kinder in solchen Situationen einen Teil ihrer eigenen Persönlichkeit ab, der aber immer noch da ist. Hieraus können neben Verhaltensauffälligkeiten wie Rückzug oder ausagierendes Verhalten auch psychische Folgeprobleme wie Depressionen, dissoziative Zustände und weitere entstehen.

Diese nicht auf eigenen Erfahrungen beruhende Ablehnung eigener Persönlichkeitsanteile, verbunden mit dem Missbrauch des Urvertrauens eines Kindes durch den beeinflussenden Elternteil, sind spezifische Besonderheiten von Eltern-Kind-Entfremdung. Die Kinder verbleiben beim beeinflussenden Elternteil und haben damit meist keine Chance, sich wieder ein eigenes, neutrales, realitätsbezogenes Bild vom abgelehnten Elternteil zu verschaffen.

Und es gibt noch eine weitere Besonderheit bei Eltern-Kind-Entfremdung: Diese Kinder haben bereits einen ehemals geliebten Elternteil verloren. Sie haben damit nur noch einen Elternteil in ihrem Leben, auf den sie angewiesen sind, zur Versorgung, finanziell und emotional. Um diesen nicht auch noch zu verlieren, werden häufig eigene Bedürfnisse unterdrückt und die Bedürfnisse des entfremdenden Elternteils bedient. Von außen ist eine hohe Identifikation des Kindes mit dem entfremdenden Elternteil zu beobachten, eine Solidarisierung in der Ablehnung des anderen Elternteils bis hin zur Parentifizierung, wo Kinder die Verantwortung für ihren Elternteil übernehmen. Altersgemäße Entwicklungsprozesse, wie die eigene Identitätsentwicklung und Autonomiebestrebungen, kann das Kind oftmals nicht, nur eingeschränkt oder nur stark verzögert durchlaufen.

Die daraus erwachsenden Schäden für Kinder „verschwinden“ nicht mit der Zeit, sondern belasten betroffene Kinder ihr gesamtes Leben. Der innere Konflikt des dann erwachsenen Kindes bleibt ungelöst bestehen. Dies selbst dann, wenn es diesen selbst nicht mehr benennen und erkennen kann.

Eine Chance zur Aufarbeitung der Traumatisierung durch Eltern-Kind-Entfremdung für das entfremdete Kind besteht häufig erst, wenn eine Distanzierung zum beeinflussenden Elternteil erfolgt und eine eigene, unbeeinflusste Wahrnehmung des Kindes ermöglicht wird. Häufig findet aber genau dieser Aufarbeitungsprozess nicht statt und die Traumata werden noch auf die nächsten Generationen übertragen. Aus diesem Grund ist es wichtig, die Entstehung von Eltern-Kind-Entfremdung bereits frühzeitig zu verhindern.

Frau schreit vor emotionalem Schmerz, die leidet an Eltern-Kind-Entfremdung

Was kann, was muss getan werden?

Eltern-Kind-Entfremdung ist die Folge von Verhalten, welches die Beziehung des Kindes zu einem Elternteil schädigt und im Extremfall zerstört. Aus dieser kurzen Feststellung kannst Du bereits herleiten, was es für das Kind in einer solchen Situation bedarf.

Entweder gibt es eine Verhaltensänderung des beeinflussenden Elternteils oder aber das Kind wird vor diesen Verhaltensweisen geschützt.

Wenn Du entfremdende Verhaltensweisen beobachtest oder feststellst, weise den Elternteil auf diese hin und auch auf die Folgen, die sie für das Kind haben können. Biete Hilfe und Unterstützung an, zeige aber auch Konsequenzen auf. Ein wichtiger Punkt ist der Faktor Zeit, denn Zeit schafft Fakten. Je länger bei fortgesetzt entfremdenden Verhalten abgewartet wird, desto größer wird die Gefahr des Kontaktabbruchs und die Belastung des Kindes.

Die Eltern (beide) sollten daher in einen engmaschigen Beratungs- und Unterstützungsprozess einbezogen werden. Auch Einzelberatung / Therapie eines Elternteils kann sinnvoll sein, damit dieser einen geschützten Raum erhält, um beispielsweise seine eigenen Emotionen aus der Trennung zu verarbeiten und zu verstehen, dass und wie er diese nicht weiter auf das Kind überträgt. Der Kontakt zum abgelehnten Elternteil sollte gesichert, stabilisiert und unter Umständen auch ausgebaut werden, damit das Kind die Möglichkeit behält, eigene Erfahrungen mit dem abgelehnten Elternteil zu machen.

Ein Ausbau des Kontaktes zum anderen Elternteil sichert zudem die Möglichkeit, einen späteren Obhutswechsel vorzunehmen, sollte keine Verhaltensänderung des abgelehnten Elternteils eintreten. Dieser wäre bei einem bereits erfolgten Kontaktabbruch nur mit erheblich höheren Belastungen für das Kind möglich.

Im gesamten Prozess, der meist stark von den Sichten der Eltern geprägt ist, darfst du das Kind nicht aus dem Blick verlieren. Wie belastet ist es? Welche Schutzmaßnahmen müssen wann ergriffen werden?

Maßnahmen wie Umgangsvereinbarungen, Umgangsbegleitungen oder Umgangspflegschaften haben sich in solchen Situationen als weitgehend wirkungslos erwiesen, da sie nur den Kontakt zum abgelehnten Elternteil sichern. Nicht verhindert wird aber, dass das Kind in der restlichen Zeit weiterhin den entfremdenden Verhaltensweisen ausgesetzt ist.

In Fällen, in denen sich ein entfremdender Elternteil der Mitwirkung verweigert oder sein Verhalten nicht ändert, ist daher zur Abwendung der Eltern-Kind-Entfremdung frühzeitig ein Obhutswechsel zum abgelehnten Elternteil zu prüfen.

Der Kontakt des Kindes zum entfremdenden Elternteil sollte in solchen Fällen durch begleiteten Umgang gesichert werden, um zu verhindern, dass das Kind in den Umgangszeiten weiterhin entfremdenden Verhalten ausgesetzt wird, gleichzeitig aber auch die Beziehung zu diesem Elternteil aufrechterhalten wird. Sollten beide Elternteile gleichermaßen entfremdende Verhaltensweisen zeigen, müsste auch eine zeitweise Fremdunterbringung des Kinds geprüft werden, bis mindestens ein Elternteil wieder in der Lage ist, seine elterliche Erziehungs- und Bindungsverantwortung (Bindungstoleranz oder besser noch Bindungsfürsorge) gegenüber dem Kind wahrzunehmen.

Die beteiligten Fachkräfte müssen die Entwicklung engmaschig begleiten. Familiengericht, Jugendamt, Beratungsstellen und weitere Fachkräfte müssen hier einen Verbund interdisziplinärer Zusammenarbeit zum Schutz des Kindes bilden.

Wichtig ist, dass Maßnahmen zum Schutz des Kindes verhindert werden können, wenn bei dem entfremdenden Elternteil positive Einstellungs- und Verhaltensänderungen nachhaltig feststellbar sind. Es liegt daher, wie bei allen Gewaltformen, vor allem in der Verantwortung des entfremdenden Elternteils, welche Schutzmaßnahmen ergriffen werden müssen.

Kind traurig über Loyalitätskonflikt, es leidet an Eltern-Kind-Entfremdung

Ist Eltern-Kind-Entfremdung ein Geschlechter-Thema?

Du wirst an unterschiedlichen Stellen mit der Frage konfrontiert werden, ob Eltern-Kind-Entfremdung ein geschlechterspezifisches Thema ist. Nein, das ist es nicht. Entfremden können sowohl Mütter als auch Väter.

Eltern-Kind-Entfremdung ist eine rein aus dem Verhalten von Eltern resultierende Beziehungsstörung.

Aus den kulturell spezifischen Gegebenheiten in Bezug auf die Verantwortungsübernahme von Kindern können sich aber Geschlechterunterschiede ergeben. Ist ein Geschlecht kulturell stärker für die Betreuung und Versorgung der Kinder in der Verantwortung, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass von diesem Geschlecht auch eher eine Eltern-Kind-Entfremdung ausgeht. Nicht das Geschlecht, sondern die Möglichkeiten, eine Eltern-Kind-Entfremdung herbeizuführen, sind entscheidend.

Ein familiäres Großschaden-Ereignis

Eltern-Kind-Entfremdung betrifft nicht nur Eltern und Kinder, sondern auch das weitere, familiäre Umfeld wie Großeltern, Onkel, Tanten etc. Auch diese sind von den Folgen betroffen. Zudem ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind, welches Eltern-Kind-Entfremdung erlebt hat, diese als Erwachsener ebenfalls erlebt oder praktiziert, deutlich erhöht. So können sich transgenerationale Schneeballeffekte ergeben, welche eine Familienhistorie nachhaltig verändern.

Der Verlust eines Kindes durch Eltern-Kind-Entfremdung ist häufig deutlich schwerer zu verarbeiten als der Tod eines geliebten Familienmitglieds. Hat man dort einen klaren Abschluss und kann die guten Erinnerungen bewahren, fehlt dies bei Eltern-Kind-Entfremdung. Das Kind ist noch da, häufig nur nicht „erreichbar“ und wendet sich gegen einen, ohne, dass eigenes Fehlverhalten dafür eine nachvollziehbare Erklärung liefert. Die kann auch bei entfremdeten Familienmitgliedern zu traumatischen Belastungen führen. Diese Belastungen, insbesondere des entfremdeten Elternteils, werden in ihrem Ausmaß meist unzureichend wahrgenommen.

Du solltest ihnen in der Bearbeitung der familiären Historie jedoch ebenfalls Beachtung widmen und sie darin unterstützen, nicht nur das bisher erlebte zu verarbeiten, sondern auch für vielleicht noch folgende Ereignisse gerüstet zu sein. Eltern-Kind-Entfremdung ist eine offene Wunde, welche, nicht aufgearbeitet, lebenslang zu erneuten Verletzungen und Traumatisierungen führen kann.

Fazit

Aufmerksamkeit ist einer der wichtigsten Faktoren, um Eltern-Kind-Entfremdung zu verhindern. Aufmerksamkeit für das Verhalten von Eltern. Aufmerksamkeit für die Veränderung der Beziehung zwischen Eltern und Kind nach einer Trennung. Und die Bereitschaft, dies frühzeitig anzusprechen und zum Schutz der Kinder notwendige Maßnahmen zu ergreifen.

Rechtzeitiges Handeln schützt Kinder vor späteren, deutlich schwerwiegenderen Belastungen. Die frühe Intervention ist aktiver Kinderschutz und Kinder sind vor Eltern-Kind-Entfremdung genauso entschieden zu schützen wie vor jeder anderen Gewaltform.

Sollte es doch zu einem Kontaktabbruch kommen, so ist neben Maßnahmen zur Wiederherstellung des Kontaktes auch die Frage zu stellen, wie es dazu kommen konnte. Du solltest die Möglichkeit nutzen, aus jedem Fall auch zu lernen, um in zukünftigen Fällen die richtigen Schlüsse zum Schutz der Kinder zu ziehen. Als betroffener Elternteil oder entfremdetes Kind solltest du dich mit den Geschehnissen aktiv auseinandersetzen und diese aufarbeiten. Dies hilft nicht nur dir, sondern ist auch aktive Prävention, das Trauma der Eltern-Kind-Entfremdung nicht auf die nächste Generation zu übertragen.

▶ Lese-Tipp


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