Was ist ein transgenerationales Trauma?
Der Begriff “transgenerationales Trauma” beschreibt die Übertragung und den Einfluss von emotionalem Schmerz, von sozialem Leid, das in einem bestimmten Moment von einer Person empfunden wurde und das die ihr folgenden Generationen beeinflusst. Dabei geht es um mehr als um einen bestimmten Erziehungsstil oder die Nachahmung von Verhalten. Es geht um epigenetische Modifikationen und darum, wie Umwelteinflüsse die Expression bestimmter Gene verändern – über Zeiträume hinweg, die viel länger währen, als der Umweltfaktor wirkt.
Das Konzept ist nicht neu. Schon Mitte des 20. Jahrhunderts, während man sich allerorts von den Wirren des Zweiten Weltkriegs zu erholen suchte, wurde das transgenerationale Trauma, das zuweilen auch als intergenerationales Trauma bezeichnet wird, beschrieben. Wissenschaftler verschiedener Länder beobachteten, dass die Kinder und Kindeskinder derjenigen, die das Grauen des Krieges überlebt hatten, vermehrt dysfunktionale Verhaltensweisen und psychische Störungen aufwiesen. Sie litten an Albträumen, Affektstörungen und waren nur begrenzt in der Lage, sich der neuen Realität anzupassen. Es schien offensichtlich, dass die Traumata, die Eltern und Großeltern erlebt hatten, in den Folgegenerationen fortwirkten.
“Der Geist entwickelt sich, wie der Körper, entlang des inneren Wachstums, unter dem Einfluss von Umwelt und Erziehung. Diese Entwicklung kann durch physische Erkrankungen und Traumata gehemmt werden.”
Umberto Eco
Nun, eine alternative Hypothese liegt nahe: Ließe sich das alles nicht dadurch erklären, dass jene traumatisierten Kriegsveteranen bestimmte Erziehungsstile anwendeten, die die genannten Störungen hervorbrachten? Wie schwer mussten ihre Erinnerungen auf ihrem Bewusstsein, vor allem aber auch auf ihrem Unterbewusstsein, wiegen? Natürlich würden sie die Familiendynamik verändern. Derartige Einflüsse haben sicher eine entscheidende Wirkung auf die Entwicklung der nächsten Generationen, aber was nach dem Zweiten Weltkrieg zu sehen war, ging weit über die Folgen einer gewissen elterlichen Erziehung hinaus.
Die Prinzipien der Epigenetik sind noch nicht vollständig verstanden, aber vielleicht lassen sie sich so zusammenfassen: Neben der DNA, die wir nach strengen Regeln von unserer beider Eltern erben, erhalten wir bestimmte Marker. Zwei Menschen können über dieselbe DNA-Sequenz verfügen, aber wenn sie in einem Fall blau und im anderen Fall gelb eingefärbt ist, werden die in ihr enthaltenen Gene auf unterschiedliche Weise exprimiert. Und diese “Farben” stammen nicht notwendigerweise aus einem Krieg.
Stellen wir uns vor, dass ein Mensch über längere Zeit Existenzängste ausgestanden hat, weil er sich nicht sicher sein konnte, morgen noch genug zu essen zu haben. Oder dass eine andere Person – aus welchen Gründen auch immer – unter chronischem Stress gelitten hat, der mit permanent hohen Kortisolspiegeln einherging. Dann klingt es plötzlich nicht mehr so abwegig, dass diese Konditionen einen Einfluss auf unsere Erbsubstanz ausüben. Sie können die DNA-Sequenz nicht verändern, aber sie können sie “einfärben”. Und dabei wirken sie umso stärker, wenn sie nicht kanalisiert werden, wenn der Betroffene versucht, seine Gefühle zu unterdrücken, und damit dazu beiträgt, dass der Zustand aufrechterhalten wird.
Die Metapher der Farben vereinfacht den Zusammenhang sehr stark. Und es ist auch keinesfalls so, dass jedes Kind und jeder Enkel, den eine von Angst geplagte Person bekommt, zwangsläufig ebenso eine Angststörung entwickeln würde. Was sie von ihren Eltern und Großeltern mit auf den Weg bekommen, ist eine gewisse Prädisposition, eine vermehrte Anfälligkeit für solche Erkrankungen.
Schauen wir uns das nun im Detail an.
Ein Beispiel für ein transgenerationales Trauma
Andrea wurde während ihrer Kindheit und Jugend von einem Familienmitglied sexuell missbraucht. Sie ist in einem schlecht strukturierten Umfeld aufgewachsen, das von ihrer Mutter geprägt war, die in ihrer Kindheit ebenso Opfer von Misshandlungen geworden war. Als Andrea die Volljährigkeit erreichte, konnte sie diesem Gefängnis endlich entfliehen, aber sie weigerte sich, psychologische Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Ihr einziger Wunsch war es, ein neues Kapitel aufzuschlagen, so schnell wie möglich zu vergessen.
Die Spuren ihrer kindlichen Erfahrungen, die man sicherlich als Wunden bezeichnen kann, sind immer noch deutlich zu sehen. Man muss nur hinsehen, um zu bemerken, dass es Andrea an Selbstbewusstsein mangelt, sie stets mit hoher Aufmerksamkeit auf ihre Umgebung schauen, von der sie nichts Gutes erwartet. Ihre Ernährungsgewohnheiten sind alles andere als gesund und darüber hinaus leidet sie an Schlafstörungen und Depressionen. Das alles zehrt an ihrem Körper, der mit seinem schwachen Immunsystem der Umwelt nur wenig entgegenzusetzen hat. Ständig ist Andrea krank. Sie ist oft erkältet und kämpft mit allerlei Allergien.
Heute hat Andrea einen 7-jährigen Sohn. Er gibt ihrem Leben einen Sinn und ist das Zentrum ihrer Welt. In ihm findet sie Stabilität und Stärke, auch jene Stärke, die sie braucht, um besser auf sich selbst aufzupassen. Aber in jüngster Zeit steht sie in Hinsicht auf die Erziehung ihres Kindes vor neuen Herausforderungen, die sie niemals erwartet hätte: Der Junge neigt zu Wutanfällen, trotzt und fordert sie immer wieder heraus. Seine Aufmerksamkeitsspanne ist sehr kurz und er schläft schlecht. Sicher hängt das eine mit dem anderen zusammen, aber wenn sie Andrea aus der Schule anrufen, dann bekommt sie das Gefühl, dass man ihre Fähigkeiten und Hingabe als Mutter infrage stellt. Sollte das stimmen? Machte sie etwas verkehrt?
Das nicht gelöste Trauma und seine epigenetischen Folgen
Das Letzte, was unsere Protagonistin tun sollte, ist, an ihrer Eignung als Mutter zu zweifeln. Peter Loewenberg, Historiker, Psychologe und Professor an der University of California (Kalifornien, USA), ist anerkannter Experte in Sachen transgenerationales Trauma. Er erklärt, dass Traumata und Trauer, die niemals verarbeitet worden seien, in den Folgegenerationen auf unterschiedliche Art und Weise sichtbar würden. Er denkt beispielsweise an die Auswirkungen eines während der Schwangerschaft erhöhten Kortisolspiegels: Der beeinträchtigt die Entwicklung des Fötus negativ, die körperliche und geistige.
Die Psychobiologin Bea van den Bergh ergänzt dazu, dass bereits im Mutterleib bestimmte biologische Systeme programmiert würden, und zwar in Abhängigkeit von Umweltfaktoren. Schon in der Schwangerschaft würden die Weichen gestellt für eine erhöhte Anfälligkeit für physische und psychische Erkrankungen.
Peter Loewenberg nutzt dazu das Bild eines “neuronalen Kurzschlusses”, der zu Schäden am Erbgut führe, die sich allerdings nicht in der DNA-Sequenz widerspiegeln. Um zu unserer eigenen Metapher zurückzukehren, könnten wir vielleicht sagen, dass nach diesem Kurzschluss ein Stück DNA schwarz gefärbt sei. Ohne dass sie davon wüssten, übertragen wir diese Marker schließlich an unsere Kinder, wenn wir uns nicht darum bemühen, unser Erbgut von jenem Fleck zu befreien.
Schlussbemerkungen zur Epigenetik
Damit das Konzept klar wird, möchten wir noch ein paar Anmerkungen zur Epigenetik machen. Uns allen hat man in der Schule beigebracht, dass wir je die Hälfte unserer DNA von unserer Mutter und unserem Vater erben. In gewisser Weise steckt in diesem genetischen Code unser Aussehen, unsere Intelligenz und manchmal leider auch die Neigung zu Erbkrankheiten. Des Weiteren ist uns klar, dass eine Vielzahl an Umweltfaktoren dazu beiträgt, wie wir später tatsächlich aussehen, ob wir eine lange Leitung haben, clever sind, gesund oder krank. Die Epigenetik ist eine Variable, die in dieser Gleichung nicht berücksichtigt wird und die zugleich schwer vorstellbar und messbar ist.
Und sie gleicht einem Quantensprung im Verständnis der Erblichkeit bestimmter Eigenschaften, die eben nicht im genetischen Code festgeschrieben zu sein scheinen. Unsere Umwelt, unser Lebensstil, unsere Ernährung und die traumatischen Ereignisse, die wir erleben, werden in Form epigenetischer Modifikationen der Erbsubstanz an die nächste Generation weitergegeben. Die Gesamtheit dieser Modifikationen, das bunte Etikett, das unsere DNA trägt, nennt sich “Epigenom”. Es öffnet die Tür in ein hochinteressantes und immer wieder beeindruckendes Universum, in dem die Expression unserer Gene definiert wird.
Wie steht es um das Epigenom der Überlebenden des Zweiten Weltkriegs? Und das von Andrea?
Die posttraumatischen Belastungsstörungen, die nach dem Zweiten Weltkrieg epidemieartig auftraten und oft bis zum Lebensende der Betroffenen nicht behandelt wurden, haben die Expression der Gene über mehrere Generationen geprägt. Selbst heute, mehr als 70 Jahre nach Ende des Krieges, tragen wir diese Spuren in uns. Sie machen uns nicht zu dem, was wir sind, aber sie sind nach wie vor da und sollten nicht vergessen werden. Die Beschäftigung mit der eigenen Geschichte ist eine Form, diese Traumata aufzuarbeiten.
Ein ähnliches Ziel sollte sich Andrea setzen. Ihre Aufgabe ist es, sich Werkzeuge anzueignen und Strategien zu erlernen, die es ihr erlauben, den in ihrer Kindheit erlebten Missbrauch zu überwinden und ihre Vergangenheit zu akzeptieren. Aus diesem Prozess kann sie eine enorme Stärke ziehen, die es ihr wiederum erlaubt, ihrem Sohn das Beste ihrer selbst zu geben, seine Bedürfnisse zu stillen und ihn so darin zu unterstützen, seine Probleme zu bewältigen. So können beide wachsen und reifen und glücklich werden.