Was ist Dyskalkulie?

Ein Gastbeitrag von der Psychologin und Legasthenietrainerin Birgit Schmidtgrabmer
Was ist Dyskalkulie?

Geschrieben von Birgit Schmidtgrabmer

Letzte Aktualisierung: 22. November 2022

Der Begriff Dyskalkulie beschreibt eine Rechenstörung. Zirka 5 % der Kinder sind davon betroffen, Mädchen ein bisschen häufiger als Burschen. Dyskalkulie ist noch großteils unbekannt. Es gibt sie schon immer, aber fast niemand kennt sie, daher ist es wichtig, alle über Dyskalkulie zu informieren, damit Kinder, die darunter leiden, bestmöglich gefördert werden können.

Laut ICD-10 wird Dyskalkulie folgendermaßen definiert:

„Diese Störung besteht in einer umschriebenen Beeinträchtigung von Rechenfertigkeiten, die nicht allein durch eine allgemeine Intelligenzminderung oder eine unangemessene Beschulung erklärbar ist. Das Defizit betrifft vor allem die Beherrschung grundlegender Rechenfertigkeiten, wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division, weniger die höheren mathematischen Fertigkeiten, die für Algebra, Trigonometrie, Geometrie oder Differential- und Integralrechnung benötigt werden.“

Das bedeutet, dass eine Person Probleme in Mathematik aufweist, vor allem die Grundlagen der Mathematik (Addition, Subtraktion, Multiplikation, Division) fallen ihr besonders schwer. Das Verständnis für Zahlen und die Grundrechenarten sind beeinträchtigt. Dies liegt aber nicht daran, dass die Person unzureichend beschult wurde, sondern an der Dyskalkulie.

Kinder mit Dyskalkulie fallen in der Schule meist früh auf, weil sie Probleme beim Rechnen haben. Es fällt ihnen schwer zu zählen und zu verstehen, welche Zahlen größer oder kleiner sind. Sie können eine Zahl nur schwer mit einer Menge in Verbindung setzen.

Allerdings gibt es immer wieder Kinder, bei denen eine Dyskalkulie nicht auffällt oder davon ausgegangen wird, dass sie einfach schlecht in Mathematik wären. Das ist fatal, denn solche Sätze beeinflussen das Selbstbild des Kindes noch lange.

Erst seit ein paar Jahren ist Dyskalkulie auch in der Gesellschaft etwas bekannter und die Kinder werden zu einer Austestung geschickt. Früher kannte Dyskalkulie niemand und die Kinder wurden als dumm oder faul abgestempelt, was aber überhaupt nicht stimmt.

Junge mit Dyskalkulie verwendet Abakus

Wer testet eine Dyskalkulie?

In Österreich wird eine Rechenstörung von einem:r Klinischen Psycholog:in diagnostiziert. Bei der Testung werden ein Rechentest und ein Intelligenztest vorgegeben, um die mathematischen Fertigkeiten und die Begabung zu untersuchen. Das ist wichtig, denn eine Rechenstörung wird nur dann diagnostiziert, wenn die Mathematikkenntnisse weit vom Intelligenzprofil abweichen. Das bedeutet, dass die Rechenfertigkeiten weit unter dem Durchschnitt liegen, die aufgrund einer normalen Intelligenz zu erwarten wären. Kinder, die unterdurchschnittlich begabt sind, haben keine Dyskalkulie, denn deren Probleme liegen dann im kognitiven Bereich vor. Genauer gesagt muss ein Kind mit Dyskalkulie normal oder hochbegabt sein, aber beim Rechnen weit unterdurchschnittlich abschneiden.

Es gibt keinen Dyskalkulie-Test für Erwachsene

Richtig, es gibt keinen psychologischen Test, der Dyskalkulie bei Erwachsenen testen kann. Allerdings gibt es ein Verfahren für die 4.-8. Schulstufe und wenn ein Erwachsener die Grundfertigkeiten der Mathematik aus der 4.-8. Schulstufe nicht beherrscht, dann kann man trotzdem Dyskalkulie diagnostizieren, denn diese Person hat die Grundfertigkeiten der Mathematik nicht vollständig verstanden – egal wie alt sie ist.

Dyskalkulie ist eine Rechenschwäche, diese zeigt sich darin, dass die Kinder große Probleme beim Rechnen haben und Mengen nur schwer verstehen können. Die Kinder können gut zählen, denn das können sie auswendig lernen, aber sie verstehen nur schwer, dass 23 mehr ist als 17, weil sie sich diese Mengen nicht vorstellen können. Manche Kinder mit Dyskalkulie haben schon große Probleme im Zahlenraum 10, andere bekommen Probleme, wenn es darum geht, über den Zehner zu rechnen, bzw. im Zahlenraum 100.

Dyskalkulie ist individuell ausgeprägt, d.h. dass es kein einheitliches Erscheinungsbild gibt, sondern dass jeder Mensch mit Dyskalkulie eigene Probleme aufweist. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie Zahlen und Mengen nur schwer verstehen und dass sie Probleme mit den Grundrechnungsarten bzw. mit dem Dezimalsystem zeigen.

Junge mit Dyskalkulie braucht Hilfe

Wie fördert man Kinder mit Dyskalkulie?

Um Kinder mit Dyskalkulie zu fördern, muss man auf jedes Kind individuell eingehen und schauen, wo es gerade steht. Was hat das Kind schon verstanden, wo soll man ansetzen? Zuerst ist es wichtig, dass das Kind alle Zahlen benennen kann und dass es auch weiß, welche Zahl größer und welche kleiner ist. Das ist das Grundverständnis, das erarbeitet werden muss. Dabei beginnt man im Zahlenraum 10 und übt diesen so lange, bis das Kind die Rechnungen verstanden oder auswendig gelernt hat. Man kann auch mit den verliebten Zahlen arbeiten. Verliebte Zahlen ergeben zusammen immer 10 (z.B. 1+9, 2+8, 3+7, 4+6, 5+5). Diese muss das Kind so lange üben, bis es sie auswendig kann, dann erst ist es bereit, mit höheren Zahlen zu rechnen.

Als Nächstes wird langsam der Zehnerübergang erarbeitet und der Zahlenraum 20 erkundet. Dieser Schritt dauert oft recht lange.

Danach wird in der Schule oft in Zehnerschritten bis 100 gerechnet und dann soll das Kind die Zahlen bis 100 plötzlich verstehen. Die Hundertertafel ist dazu gut, aber für Kinder mit Dyskalkulie ist sie extrem überfordernd, weil es für diese Kinder willkürliche Zahlen sind. Kinder mit Dyskalkulie brauchen länger, um zu verstehen, dass jede Zahl auch einer bestimmten Menge zugeordnet ist.

Übe mit diesen Kindern ganz viel und ganz lange mit Materialien (Steine, Kastanien, Legomännchen, …), damit sie ein Gefühl dafür bekommen, was viel ist und was wenig. Wie viele Kastanien brauche ich für die Zahl 34 und wie viele für die Zahl 72? Das ist für Kinder mit Dyskalkulie nur schwer verstehbar, Gegenstände machen es aber angreifbar und führen so langsam zum Verständnis für Mengen.

Wichtig ist es, dem Kind immer wieder zu zeigen, was eine Zahl bedeutet. Es darf nicht davon ausgegangen werden, dass alle Kinder das sofort verstehen. Kinder mit Dyskalkulie sind nicht dumm und sie bemerken auch, dass sie die Zahlen nicht verstehen, die andere Kinder schon längst können. Das beschädigt das Selbstbewusstsein der Kinder noch mehr.

Deshalb ist es wichtig, Kinder mit Dyskalkulie so früh wie möglich zu identifizieren und sie dann in einem Dyskalkulietraining zu fördern. Dyskalkulietrainer:innen kennen bestimmte Methoden, um diesen Kinder zu helfen und sie haben eine Stunde pro Woche Zeit, sich nur mit dem Kind zu beschäftigen. Das Kind kann alle Fragen stellen, die es sich in der Schule vielleicht nicht fragen traut und es wird genau dort angesetzt, wo das Kind gerade steht und von wo aus es weiter lernen kann.

Ein Dyskalkulietraining sollte immer im Einzelsetting stattfinden, damit jedes Kind individuell gefördert wird. Da Dyskalkulie individuell stark variiert, ist das besonders wichtig.

Wenn du ein Kind kennst, das sich beim Rechnen sehr schwertut, dann überlege doch einmal in Richtung Dyskalkulie, suche ein Gespräch mit der Lehrkraft und vereinbare einen Termin bei einer:m Klinischen Psycholog:in. Aber bedenke, nicht jedes Kind mit Problemen in Mathematik hat Dyskalkulie, es gibt auch andere Ursachen.

Bibliografie:

Gaidoschik, M. (2012). Wie Kinder rechnen lernen. Erziehung und Unterricht 3/4, 306 – 316.

Simon, H. (2008). Dyskalkulie – Kindern mit Rechenschwäche wirksam helfen. Stuttgart: Klett Kotta.

Zimmermann, K.R. (2018). Jedes Kind kann rechnen lernen. Trotz Rechenschwäche/Dyskalkulie. Weinheim: Beltz Verlag.


Dieser Text dient nur zu Informationszwecken und ersetzt nicht die Beratung durch einen Fachmann. Bei Zweifeln konsultieren Sie Ihren Spezialisten.