Warum Nietzsche ein Pferd umarmte und weinte

Warum Nietzsche ein Pferd umarmte und weinte
Sergio De Dios González

Geprüft und freigegeben von dem Psychologen Sergio De Dios González.

Geschrieben von Edith Sánchez

Letzte Aktualisierung: 12. Juli 2023

Friedrich Nietzsche war ein deutscher Philosoph, der einige der einflussreichsten Werke verfasste. Im Jahr 1889 lebte der Philosoph in einem Haus in der Carlo-Alberto-Straße in Turin, Italien. Es war Morgen und Nietzsche ging in Richtung des Zentrums der Stadt, als etwas geschah, das sein Leben für immer verändern sollte.

Er sah einen Kutscher, der sein Pferd schlug, weil es sich nicht vorwärtsbewegen wollte. Das arme Tier war völlig erschöpft. Es hatte einfach keine Kraft mehr. Doch der Besitzer des Pferdes peitschte es immer wieder und versuchte es trotz völliger Erschöpfung zum Fortgang zu bewegen.

“Diejenigen, die gegen Monster kämpfen, müssen darauf achten, selbst keine Monster zu werden. Wenn du lange in einen Abgrund schaust, schaut der Abgrund auch in dich.”

Friedrich Nietzsche

Nietzsche war entsetzt über das, was er sah, und näherte sich rasch der Szenerie. Nachdem er das Verhalten des Kutschers angeprangert hatte, ging er schnellen Schrittes zu dem erschöpften Pferd, umarmte es und begann zu weinen. Zeugen sagen, er habe dem Pferd ein paar Worte ins Ohr geflüstert, so, dass niemand es hören konnte. Der Legende nach seien die letzten Worte des Philosophen “Mutter, ich bin ein Idiot”  gewesen. Er verlor daraufhin sein Bewusstsein und sein Geist veränderte sich für immer.

Ein Morgen, der alles veränderte

Seit diesem Tag hatte Nietzsches offensichtliche Demenz Ärzte und Intellektuelle auf der ganzen Welt beschäftigt. Zum Thema waren zudem allerlei Spekulationen angestellt worden und es gibt mindestens drei “offizielle” Versionen von dem, was an diesem Morgen in Turin passiert ist. Fest steht praktisch nur, dass der Philosoph nie wieder derselbe war.

Friedrich Nietzsche

Von diesem Tag bis zu seinem Tod, der zehn Jahre später eintrat, sprach Nietzsche nie wieder. Nach dem Zwischenfall mit dem Pferd wurde er nie wieder er selbst. Die Polizei wurde alarmiert und der Philosoph wurde wegen Störung der öffentlichen Ordnung verhaftet. Kurz danach wurde er in ein psychiatrisches Sanatorium gebracht. Von dort schrieb er zwei unverständliche Briefe an zwei seiner Freunde. Ein alter Bekannter brachte ihn später in ein Sanatorium in Basel in der Schweiz, wo er mehrere Jahre blieb.

Einer der größten Denker des 19. Jahrhunderts zeigte während seines Aufenthalts in den Sanatorien, dass er vollständig von seiner Mutter und seiner Schwester abhängig war. Soweit uns heute bekannt ist, kehrte er nie in die Realität zurück.

Nietzsches Demenz

Man hat sich darauf geeinigt, dass Nietzsches Auftreten an diesem Tag – die Tränen und die Umarmung des gepeinigten Pferdes – eine Manifestation seiner Geisteskrankheit waren. Davon abgesehen hatten seine Mitmenschen bereits seit Jahren seltsames Verhalten an ihm beobachtet. Da war beispielsweise der Hausmeister des Gebäudes, in dem er wohnte, der Nietzsches Selbstgespräche gehört hatte. Er war auch dafür bekannt, manchmal nackt in seinem Zimmer zu tanzen und zu singen. Lange Zeit hatte der Philosoph auch sein Aussehen und seine Körperhygiene vernachlässigt. Diejenigen, die ihn kannten, bemerkten, dass sich sein einst stolzer Gang in ein hängendes Schlurfen verwandelt hatte.In Gesprächen war aufgefallen, dass er vermehrt zusammenhangslose Sätze bildete und von einem Thema zum anderen sprang. Er war nicht mehr der scharfsinnige Denker, der er früher war.

Nietzsche verlor im Sanatorium vollends seine Sprache und darüber hinaus auch zunehmend seine kognitiven Fähigkeiten. Manchmal war er aggressiv und traf damit seine Umgebung. Und doch hatte er wenige Jahre zuvor mehrere der Werke geschrieben, die ihn als einen der größten Philosophen der Geschichte bekannt machen sollten.

Nietzsches Tränen

Die meisten Menschen betrachteten den Umgang mit dem Pferd als nichts weiter als eine irrationale Handlung, zu der ihn seine psychische Erkrankung motivierte. Andere jedoch sehen darin eine tiefere Bedeutung. Milan Kundera bezieht sich in Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins  auf die Szene von Nietzsche neben dem geschlagenen Pferd.

Nietzsche und Pferd

Für Kundera spielte sich das Ganze so ab, dass Nietzsche dem Pferd ins Ohr flüsterte, um es um Vergebung zu bitten. Aus Kunderas Perspektive tat er dies im Namen der ganzen Menschheit für die Rohheit, mit der die Menschen andere Lebewesen behandeln und sie entweder als Feinde oder Sklaven degradierten.

Nietzsche war nicht als Tierschützer oder für eine besondere Verbindung zur Natur bekannt. Aber dieser Vorfall von Tierquälerei hatte eindeutig einen starken Einfluss auf ihn. Dieses Pferd war das letzte Lebewesen, zu dem er eine echte Verbindung hatte, mit dem er sprach. Mehr als das Tier es selbst tun konnte, identifizierte sich Nietzsche mit seinem Leiden.

Zu dieser Zeit war Nietzsche der Öffentlichkeit nur wenig bekannt, obwohl er bereits einen tadellosen Ruf als Professor hatte. Leider verliefen seine letzten Jahre schlicht miserabel. Seine Schwester hatte außerdem einige seiner Schriften falsch ausgelegt, um sie später mit dem Nationalsozialismus zu vereinbaren. Nietzsche konnte nichts dagegen tun. Er war bis zu seinem Tod im Jahr 1900 wie in einen tiefen Traum versunken.


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