Vom Lieben und Streiten
Es gibt in solchen Beziehungen kein Ich. Es regiert das Wir. Irgendwann ähnelt sich nicht nur die Meinung zu diesem und jenem, sondern auch Freunde werden nur noch zu zweit eingeladen. Der eine Partner mag den Freund oder die Freundin des anderen nicht? Dann schläft die Freundschaft leider ein. Sogar die äußere Erscheinung der Liebenden gleicht sich im Laufe der Jahre immer mehr bis zum Kauf der gleichen Regenjacken.
Zweifel? Irritationen? Zögern? Unsicherheit? Gar ein Nein? Das gäbe mindestens eine Diskussion, wenn nicht sogar einen Konflikt. Da haben wir ihn: den Streit. Um ihn zu ermöglichen, braucht es den Dialog, um die eigenen Gedanken, Meinungen, Standpunkte und Bedürfnisse mitzuteilen. Der Streit stellt Herausforderung und Schmerz, aber auch eine Möglichkeit zur Entwicklung dar.
Der Philosoph Wilhelm Schmid spricht von der atmenden Liebe. Von einer immer wieder erforderlichen Distanz, durch die sich die Liebenden nicht nur ständig miteinander befassen, sondern sich immer wieder auch dem eigenen Ich zuwenden. So wird die Liebe vor erstickenden Ansprüchen gerettet (Schmid 2021).
Die Liebe entfaltet sich freier, wenn nicht nur die Übereinstimmung, sondern auch unterschiedliche Ansichten und Interessen gelten dürfen. Eine Dissonanz zwischen Liebenden ist eine wunderbare Chance, sich gegenseitig Fragen zu stellen und sich die eigenen Gedanken gegenseitig mitzuteilen. Dem anderen zu ermöglichen, an der eigenen Welt und ihren Erfahrungen teilzuhaben und sich einzufühlen. Ohne solche Gespräche dürfte die Liebe bald verflachen, wenn sie sich nicht gar über kurz oder lang verflüchtigt, oder rein einer gewissen Zweckmäßigkeit weicht. Irgendwann haben sich die Liebenden nicht mehr viel zu sagen, ohne dass sie wissen, wie es dazu gekommen ist; ganz wie in der sachlichen Romanze nach Erich Kästner.
Der Sinn der Liebe ist die Schaffung von Sinn, meint Schmid. Dieser entsteht durch sinnvolle Zusammenhänge. Was bedeutet das, was dir und mir in der Welt und miteinander geschieht, für unser beider Ich und unser Wir? In intensiven Gesprächen, die das eigene Sein berühren und anregen, vergessen die Liebenden die Zeit. Sie dürfen erleben, weshalb sie überhaupt nach der Liebe suchen, sie zeitweise wieder verlieren und wiederfinden wollen: Es ist die Sehnsucht nach Verbundenheit und Verstandenwerden.
Diese Erfahrung ist voller Möglichkeiten für das eigene und gemeinsame Leben. Dann, wenn die Liebenden immer wieder geschehen lassen können, statt zu bestimmen und zu kontrollieren. Sich immer wieder von den Gedanken des anderen anregen und inspirieren lassen, und neben dem Gemeinsamen auch das Gegensätzliche willkommen heißen, fördert die Liebe.
Wird der Streit hinsichtlich seiner Chancen und nicht nur als Zerstörungs- und Zersetzungspotenzial für die Liebe betrachtet, dient er der eigenen und auch gemeinsamen Entfaltung. Das Selbst will nicht nur für sich allein, sondern auch in der Liebe leben, und sich nicht verstecken oder klein machen müssen. Die eigene Position immer wieder neu zu finden, zu definieren, bei Bedarf zu verändern und auch zu behaupten, lässt das Selbst und die Liebe reifen.
Der Publizist Michel Friedmann sieht den Streit als unverzichtbar für Fortschritt. Er sei eine Häutung, die die nächsttiefere Schicht zum Vorschein bringt. Allerdings kommt es auf das Wie des Streits an, mit dem man andere in Frage stellt und sich selbst in Frage stellen lässt. Es benötigt das Erkennen, Benennen und Verhandeln eines Konflikts (Friedmann 2021).
Offenbar braucht es den zeitweisen Widerspruch oder auch gar den Widerstand, um sich in der Liebe zu entwickeln. Es braucht den Streit als Weg und Voraussetzung für eine Veränderung, wenn die Liebe unlebendig geworden ist. Es geht nicht nur um die Sehnsucht nach Verbundenheit, sondern auch um persönliche und individuelle Freiheit und Selbstbestimmung. Nach Friedmann kann eine nicht mehr streitig gestellte Zufriedenheit schnell zu einer unreflektierten Selbstzufriedenheit werden.
Da die Liebe nicht nur aus guten Gefühlen, sondern auch als solchen des Ärgers, der Frustration oder der Trauer besteht, gilt es auch diesen Ausdruck zu verleihen. Am besten im Gespräch, doch manchmal führt auch schon das Bewusstsein und die Akzeptanz zu einer Wandlung. Bei schönen Gefühlen wissen die Liebenden, dass es auch wieder andere Phasen geben kann. In unschönen Episoden wieder gegenzusteuern ermöglicht, dass die Liebe davon nicht dominiert oder gar getötet wird.
Wilhelm Schmid will die Liebe auf seelischer Ebene atmen lassen, im Sinne ihrer Muschelkompetenz. Zur rechten Zeit kann sie sich je nach Situation und innerer wie äußerer Verfassung öffnen oder schließen. In der Öffnung ist die Seele berührbar, aber auch verletzlich. Durch Verschließen schützt sie sich (Schmid 2021).
Die Liebe und der Streit könnten zwei unverzichtbare und sich ergänzende Partner sein, bei der sich Öffnung und Verschließen in einem lebendigen Prozess ausgleichen. Sie können die These von Martin Buber, dass das Ich erst am Du zum Ich wird, in die Praxis umsetzen. Es entsteht ein Wir, das durch zwei freie Menschen in Liebe lebendig gehalten wird.
Friedmann, Michel (2021) Streiten? Unbedingt! Ein persönliches Plädoyer. Berlin: Dudenverlag
Schmid, Wilhelm (2021) Liebe. Wie Sie gelingt. Berlin: Insel Taschenbuch