Studie: Du erinnerst dich an das, was du siehst, nicht an das, was du fotografierst

Das visuelle Gedächtnis, also die Erinnerung an Bilder, Farben und Details steckt in der Krise: Verlieren wir kognitive Fähigkeiten, wenn wir externe Festplatten wie Handys oder andere Geräte statt unser eigenes Gedächtnis verwenden?
Studie: Du erinnerst dich an das, was du siehst, nicht an das, was du fotografierst
Valeria Sabater

Geschrieben und geprüft von der Psychologin Valeria Sabater.

Letzte Aktualisierung: 07. Oktober 2022

Das Mobiltelefon hat zahlreiche Funktionen und übernimmt Aufgaben, die bis in jüngster Vergangenheit von unserem Gehirn erledigt wurden: Während dich heute beispielsweise das GPS zum Ziel bringt, musstest du früher dafür deine grauen Zellen aktivieren. Smartphones sind außerdem zu einem tragbaren Archiv unserer Erfahrungen geworden. Sie sind unsere externe Festplatte, auf der wir unsere Lebensdaten speichern. Vergiss jedoch nicht: Du erinnerst dich besser an das, was du siehst, nicht an das, was du fotografierst. 

Smartphone-Kameras sind unsere externen Augen, mit denen wir jedes Detail festhalten, um unser Leben in Online-Galerien zu dokumentieren. Eine aktuelle Studie erinnert jedoch daran, dass wir Gesehenes deutlich besser in unserem Gedächtnis verankern als Fotos. 

Wenn du Menschen, die ihr Leben jeden Tag auf Instagram posten, fragst, was sie gefrühstückt haben, erinnern sie sich oft nicht daran. Auf Reisen ist das ähnlich: Viele konzentrieren sich auf tolle Fotos und versuchen, sich vor einer Kathedrale, einem Denkmal oder einer Skulptur in Szene zu setzen, vergessen dabei jedoch das Wichtigste: Sie genießen nicht den Augenblick, während sie die Sehenswürdigkeit in aller Ruhe betrachten. 

Wenn du ständig alle deine Aktivitäten mit dem Handy fotografierst, verlagerst du deine Erinnerungen auf die externe Festplatte und dadurch werden diese weniger bedeutungsvoll. Verlieren wir vielleicht kognitive Fähigkeiten, weil wir zu viele unserer eigenen Aufgaben an die Technologie delegieren? 

Wir sind besessen davon, alles zu fotografieren, und vernachlässigen dabei die angenehme Erfahrung, unsere Umgebung in aller Ruhe zu bewundern – nur mit unseren Augen, unserem Verstand und unseren Gefühlen.

Du erinnerst dich an das, was du siehst, nicht an das, was du fotografierst
Wenn du alles fotografierst, um Bilder in deinen sozialen Netzwerken zu teilen, wirkt sich das auf die Qualität deines visuellen Gedächtnisses aus.

Was du fotografierst, verblasst oft in deinem Gedächtnis

Wir sprechen über die Besessenheit, Selfies zu produzieren. Dieses technologiebedingte Phänomen hat neue klinische Realitäten hervorgebracht, unter anderem die Selfie-Dysmorphie: Viele finden sich ohne Filter und Spezialeffekte nicht schön und lehnen ihr wahres Bild ab. Dazu kommt das Bedürfnis, alles zu fotografieren, was passiert. Du fotografierst ein Fenster, durch das ein Sonnenuntergang zu sehen ist, du fotografierst Bücher, die du gerade liest oder dein schlafendes Haustier, du fotografierst jede Szene im Urlaub, um anderen deine Welt im Online-Schaufenster zu zeigen.

Eine kürzlich im Psychonomic Bulletin and Review veröffentlichte Studie, die an der State University durchgeführt wurde, zeigt, dass diese Besessenheit, alles zu fotografieren, das Gedächtnis beeinflusst. Das heißt, du erinnerst dich an das, was du siehst, deutlich besser als an die Fotos in deiner Handy-Galerie.

Das Bedürfnis, alles zu dokumentieren, wird von einer weiteren unbestreitbaren Tatsache begleitet: Die sozialen Netzwerke müssen gefüttert werden, um Likes zu erhalten. Die Fotos dienen dazu, anderen einen positiven Ausschnitt aus deinem Leben zu zeigen, während du in Wahrheit nicht wirklich siehst, was deine Augen wahrnehmen.

Fotos haben ein Verfallsdatum

Bereits 2014 stellte Dr. Linda Henkel in einer Studie fest, dass Fotos ein Verfallsdatum haben. Dies bedeutet, dass die Aufnahmen unser Gedächtnis ausbremsen: Wenn du ein Objekt mehrmals hintereinander fotografierst, wirst du dich weniger daran erinnern, was du gerade gesehen hast. Machst du nur ein einziges Foto, beeinträchtigt dies dein Gedächtnis nicht. 

Viele machen ständig irrelevante Fotos, was dazu führt, dass ihr visuelles Gedächtnis an Schärfe verliert, denn sie können ihrem Umfeld keine wirklich sinnvolle und anhaltende Aufmerksamkeit schenken.

Wenn du die Welt durch einen Bildschirm siehst, wird sie flüchtiger, diffuser und veränderlicher. Nur wenige Dinge bleiben in deinem Gedächtnis, weil deine Aufmerksamkeit fast immer verstreut ist und sich auf verschiedenste Reize verteilt.

Das Handy als externes Gedächtnis

Du erinnerst dich an das, was du siehst, jedoch nicht so sehr an all die Fotos in deiner Handy-Galerie. Dies sollte dich darauf aufmerksam machen, dass Smartphones und andere Technologien unsere Fähigkeit schwächen, kognitive Aufgaben ohne Hilfsmittel zu erledigen. 

Neurowissenschaftler warnen uns davor, dass unser räumliches Gedächtnis immer schlechter wird. Wir vertrauen auf das GPS, sogar um unser Auto auf dem Parkplatz im Einkaufszentrum zu finden. Das visuelle Gedächtnis – also die Erinnerung an Bilder, Farben und Details – steckt in der Krise!

Natürlich haben wir schon immer auf Hilfsmittel vertraut, die unseren Alltag einfacher gestalten und den Wissenserwerb erleichtern. Deshalb betrachten viele die endlosen Fotogalerien auf ihren Smartphones als Vorteil. Diese ermöglichen es uns, die Bilder jederzeit abzurufen, zu bewundern und uns an vergangene Augenblicke zu erinnern. Doch tun wir das tatsächlich? Nimmst du dir die Zeit, deine Fotos zu ordnen, schlechte Aufnahmen zu löschen oder Kommentare zu den Bildern zu schreiben? Oder geht es nur um die Veröffentlichung auf sozialen Netzwerken?

Wenn du fotografierst, konzentriert sich dein Auge nicht auf das Wesentliche
Wenn du fotografierst, trennst du dich in Wahrheit von der Szene, die du gerade siehst. Du konzentrierst dich nur auf einen Bildausschnitt, jedoch nicht auf das Wesentliche.

Beobachten und Emotionen fließen lassen: das beste Rezept für Erinnerungen

Wenn du fotografierst, möchtest du Momente verewigen, die du jederzeit wieder aus deiner Erinnerung abrufen kannst. Die unverhältnismäßige Menge an Bildern wirkt sich jedoch negativ aus. Sobald du den Bildschirm deines Handys vor Augen hast, lösen sich dein Verstand und deine Sinneswahrnehmung vom Schauplatz, den du siehst. Du bist jetzt nur noch damit beschäftigt, ein gutes Foto zu schießen: Die Lichtverhältnisse, die Schärfe, das Dateiformat und andere Einstellungen müssen perfekt sein, um die Bildqualität zu garantieren.

Diese Bilder verschwinden großteils in der externen Galerie und finden keinen Einlass in dein Gedächtnis, das stark mit Emotionen verbunden ist. Diese Tatsache ist nicht unbedingt problematisch oder pathologisch, doch sie sollte als Anlass zum Nachdenken dienen. Wenn du ständig alles fotografierst, verpasst du vielleicht die wahre Größe eines Gemäldes, die emotionale Komponente eines Sonnenuntergangs oder die Essenz einer Reise.

Du erinnerst dich an Szenen, die du mit Neugierde und Bewunderung bestaunst, an Augenblicke, die du emotional und leidenschaftlich erlebst. Jene Bilder, die du in Ruhe und von Herzen mit all deinen Sinnen beobachtest, verankern sich in deinem Gedächtnis und machen dich glücklich. Du siehst manche Dinge besser, wenn der Blick nicht durch den Bildschirm eingeschränkt ist.


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