Selbstverletzendes Verhalten: Was verbirgt sich hinter solchen Verhaltensweisen?
Die Klinge eines Spitzers oder Rasierapparats, eine Schere oder sogar die eigenen Nägel werden dazu benutzt, um eine horizontale Linie in die Haut des Unterarms, Bauchs oder Oberschenkels zu ritzen. Für viele ist diese Selbstverstümmelung der Weg aus ihrem emotionalen Schmerz. Ein Weg, um die Leere zu füllen. Doch vor allem ist selbstverletzendes Verhalten der Ausdruck eines psychischen Ungleichgewichts, mit dem nicht angemessen umgegangen wird.
Das Erste, was uns in den Sinn kommt, wenn wir solche Verletzungen sehen – von denen einige recht frisch, andere aber schon vernarbt sind und daher auf ein chronisches selbstverletzendes Verhalten schließen lassen -, ist, die Frage nach dem Warum. Warum sollte sich jemand absichtlich verletzen wollen? Manchmal sind es Schnitte, manchmal sind es Verbrennungen und manchmal ist es das Ergebnis eines ständigen und wiederholten Kratzens, um eine Verletzung zu verursachen.
„Wir wählen den Ort für die Wunde aus, an dem wir über unser Schweigen sprechen.“
Alejandra Pizarnik
Die Antwort auf diese Frage ist komplex. Trotz der Tatsache, dass ein Großteil der von dieser Erkrankung Betroffenen junge Patienten sind, ist es so, dass auch wesentlich mehr Erwachsene darunter leiden, als man lange Zeit angenommen hatte. Darüber hinaus können wir ein zunehmendes und alarmierendes Phänomen nicht ignorieren: die Folgen, die selbstverletzendes Verhalten über die sozialen Netzwerke haben kann, weil es vor allem auf Jugendliche eine ansteckende Wirkung hat.
Außerdem möchten wir darauf hinweisen, dass, obwohl in der vierten Version des Diagnostischenund statistischen Leitfaden psychischer Störungen selbstverletzendes Verhalten als Symptom und nicht als Störung definiert wurde, es in der aktuellen, fünften Ausgabe als abzugrenzende Krankheit mit eigener Symptomatik eingestuft wird. Weiterhin wird die Tatsache berücksichtigt, dass es im Zusammenhang mit anderen Störungen, wie z. B. Stimmungs-, Angst- und Essstörungen, auftauchen kann.
Die American Psychiatric Association spricht wiederum von einer „nicht-suizidalen Selbstverletzungsstörung“ und definiert diese als eine Strategie, bei der Schmerz als Katharsis diene, um negative Empfindungen, Gefühle der Einsamkeit, Leere oder Isolation zu lindern, um die Aufmerksamkeit von anderen Problemen abzulenken, Gefühle der Wut abzubauen, Anspannungen zu lösen oder pausenloses Denken zu kontrollieren.
Selbstverletzendes Verhalten: Eine falsche Herangehensweise, um emotionalem Schmerz zu entkommen
Etwas, das viele Experten angesichts der klinischen Definition dieser Erkrankung hinterfragen, ist, ob es sich wirklich um ein nicht-suizidales Verhalten handelt. Es ist zum Beispiel bekannt, dass zwischen 50 und 70 % der Menschen, die sich selbst verletzen, versucht haben, Selbstmord zu begehen oder es irgendwann in ihrem Leben tatsächlich tun werden. Es mag sein, dass das Ziel dieser Kratzer, dieser Verbrennungen oder Schnittwunden an sich nicht darin besteht, sich das Leben zu nehmen, aber hinter diesem Verhalten steckt eine Denkweise und ein mentales Unbehagen, das irgendwann einmal gefährlich werden kann.
Wir wissen, dass jeder Fall anders ist und jeder Mensch seine ganz eigenen Eigenschaften besitzt. Doch es ist davon auszugehen, dass Selbstverstümmelungen nur die Spitze des Eisbergs sind. Dass sie nur die Hülle eines nicht ergründeten und sich immer intensiver zeigenden sozialen Phänomens sind, für das wir alle sensibler sein sollten. Auch Behörden und soziale Organisationen sollten aufmerksamer und interessierter daran sein, herauszufinden, was hinter solch einem Verhalten steckt.
„Wenn ich mich ritze, nehmen mein Schmerz und meine schlechte Stimmung ein Ende und ich entspanne mich“, wird so oder ähnlich immer wieder von Jugendlichen formuliert, die sich ritzen oder selbst verletzen. Diese Form der Selbstsabotage und Selbstzerstörung ist ein falscher Umgang mit Stress und den Herausforderungen des Lebens. Ob wir das nun hören wollen oder nicht, es ist fast das gleiche Verhalten, das ein Süchtiger an den Tag legt, der einer Sucht nachgeht, um „zu vergessen“.
Auch wenn es sich bei diesen Wunden nur um Hautverletzungen handelt und diese jungen Menschen – meist – keine Borderline-Persönlichkeitsstörung aufweisen, haben viele von ihnen trotzdem mit emotionalen, affektiven und/oder schulischen Problemen, einem geringen Selbstwertgefühl und einer deutlich verzerrten Wahrnehmung ihres Körpers zu kämpfen.
Und obwohl es Fachleute gibt, die glauben, dass die Betroffenen dadurch nach Aufmerksamkeit suchen oder anderen ihr inneres Unbehagen zeigen wollen, können wir sagen, dass wir vor einem viel schwerwiegenderen Problem stehen, das, wie wir bereits erwähnt haben, auch die erwachsene Bevölkerung betrifft.
Wie man selbstverletzendes Verhalten angehen kann
Marco ist 56 Jahre alt. Er ist ein Angestellter mit einem sehr stressigen Arbeitsleben und macht durch etwas sehr Konkretes aufmerksam: Auch im Sommer trägt er immer lange Ärmel. Er passt sehr gut auf, dass sich der Knopf an seinem Handgelenk nie löst und seine Ärmel nicht nach oben rutschen. Denn falls er die Ärmel seines Hemdes hochkrempeln würde, würde eine ganze Landkarte mit alten und neuen horizontalen Wunden freigelegt.
„Jede Seele hat ihre Wunden.“
Doménico Cieri Estrada
Marco ist eines von vielen Beispielen für selbstverletzendes Verhalten der erwachsenen Bevölkerung. Nach offiziellen Angaben kommen auf 100.000 Einwohner 65 Erwachsene, die sich selbst verletzen, wobei ältere Menschen in Seniorenwohnheimen besonders zu erwähnen sind. Diese Daten sind äußerst relevant, denn man konnte darüber hinaus nachzuweisen, dass das Selbstmordrisiko in diesen Fällen sehr hoch ist. Wenn wir uns jetzt fragen, was hinter diesen Verhaltensweisen steckt, ist die Antwort recht simpel: intensive und anhaltende negative Emotionen, ein hohes Maß an Selbstkritik und große Schwierigkeiten damit, die eigenen Emotionen auszudrücken und mit ihnen umzugehen.
Um selbstverletzendes Verhalten angehen zu können, müssen wir zunächst wissen, was sich hinter diesem Verhalten verbirgt. Versteckte Störungen, wie Essstörungen, Depressionen, Zwangsstörungen, Angst und ähnliche können gegeben sein. Das sind Realitäten, die nur Fachleute diagnostizieren können.
Auch wenn oft eine stationäre Aufnahme empfohlen wird, sollte diese Option sicherlich der letzte Ausweg sein. Allerdings ist sie zwingend notwendig, falls bereits Selbstmordgedanken oder ein suizidales Verhalten aufgetreten sind.Darüber hinaus ist die kognitive Verhaltenstherapie in den meisten Fällen sehr effektiv und reduziert sowohl selbstverletzende als auch selbstmörderische Tendenzen und Symptome von Depression und Angst. Darüber hinaus sind Familien- sowie Gruppendynamiktherapien, auf Mindfulness basierende Therapien oder sogar dialektische Verhaltenstherapien, bei denen das Erlernen des Umgangs mit Stress, Frustration, Regulierung von Emotionen und die Verbesserung der Beziehungen zu anderen zweifellos sehr positive Ansätze im Umgang mit dem Thema Selbstverletzung sind.
Daher sollten wir nach nützlicheren, sensibleren und vernünftigeren Wegen finden, um mit dem Schmerz des Lebens umzugehen.
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