Normalität: Was bedeutet das wirklich?
Der Begriff “Normalität” wird in unserer Gesellschaft oft und undifferenziert verwendet. Bei zahlreichen Gelegenheiten hören wir von Verhaltensweisen, die normal seien oder oben nicht. Wir stoßen allerdings gegen eine Wand, wenn wir versuchen, zu definieren, was Normalität wirklich ist. Es ist schwierig für uns, zu definieren, was normal, seltsam, komisch oder gar pathologisch ist.
Konnotationen sind ein gefährlicher Aspekt des Konzepts der Normalität. Sie werden für gewöhnlich als bestimmende Faktoren dafür verwendet, was richtig sei und was nicht. Wenn wir eine Person, ein Verhalten oder etwas Ungewöhnliches beobachten, werden wir dem gegenüber höchstwahrscheinlich Vorurteile aufbauen. Dies ist bis zu einem gewissen Grad auf unser gemeinsames Verständnis von Normalität zurückzuführen und darauf, dass wir die Normalität brauchen, um uns sicher zu fühlen. Um der Toleranz willen ist es aber wichtig, zu lernen, was “Normalität” wirklich ist.
Ein einfacher Weg, sich diesem Begriff zu nähern, ist das Gegenteil der Normalität, die Pathologie, zu definieren. Das Verständnis abnormaler Prozesse und Verhaltensweisen wird uns helfen, die wahre Definition dieses so normalen Terminus zu finden. Deshalb ist das Erste, was wir hier ansprechen, die Definition des Pathologischen.
“Die Normalität ist eine gepflasterte Straße. Sie ist bequem zu begehen, aber es wachsen keine Blumen darauf.”
Vincent van Gogh
Die Definition des Pathologischen oder Anormalen
Die Definition des Pathologischen war schon immer schwierig, da es so komplex ist, die entsprechenden Grenzen zu bestimmen. Es verwirrt die Menschen auch, wenn sie nichts dagegen tun können. In der Psychologie wird noch immer darüber diskutiert, was einer Diagnose oder Therapie bedarf und was nicht? Nun, welche Kriterien sollten pathologische Verhaltensweisen erfüllen, damit sie behandlungswürdig gelten?
Wenn es darum geht, eine Pathologie oder eine Anomalie zu definieren, folgen wir in der Regel vier Kriterien. Zu beachten ist, dass es nicht notwendig ist, alle Kriterien zu erfüllen, um etwas als anormal einzustufen. Sie sind jedoch als vier Dimensionen zu verstehen, die von unterschiedlicher Wertigkeit sind.
Das sind die vier verschiedenen Kriterien:
- Statistischer Ansatz: Er basiert auf der Idee, dass das Gewöhnliche normal sei. Es handelt sich um ein mathematisches Kriterium, das auf Zahlen basiert. Häufig wiederholte Verhaltensweisen gelten als normal, während solche, die kaum auftreten, als anormal oder pathologisch verstanden werden. Dieser Ansatz verwendet eine objektive Methode zur Messung der Normalität. Allerdings verliert er an Effektivität, wenn es viele Variablen zu berücksichtigen gilt. Es stellt sich auch die Frage der Definition des prozentualen Schwellenwerts, der den Wechsel von abnormal zu normal impliziert.
- Biologischer Ansatz: Nach diesem Ansatz bestimmen biologische Prozesse und Gesetze die Normalität. Die Verhaltensweisen oder Prozesse, die der Natur folgen, werden demnach nicht als pathologisch angesehen. Das Problem bei diesen Kriterien ist, dass biologische Gesetze bzw. unser Verständnis derselben falsch oder unvollständig sein könnte. Eine Neuerung würde dann als eine Pathologie und nicht als Fortsetzung eines normalen Prozesses interpretiert werden.
- Sozialer Ansatz: Er basiert auf der Idee, dass Normalität das sei, was die Gesellschaft als normal empfindet, was die Menschen akzeptieren. Die Gesellschaft etabliert durch Intersubjektivität und soziales Wissen die Eigenschaften dessen, was “normal” ist. Geschichte und Zeitgeschehen beeinflussen dieses Kriterium, dass deshalb je nach Zeit und Kultur variiert.
- Subjektiver Ansatz: Nach diesem Kriterium reicht es aus, wenn eine Person der Ansicht ist, dass sie sich pathologisch verhalte, um sie als behandlungswürdig zu betrachten. Vorurteile und Subjektivität machen diesen Ansatz sehr mangelhaft. Menschen neigen dazu, ihr gesamtes Verhalten als normal zu betrachten.
Die obigen Kriterien sind nützlich bei der Diagnose und Behandlung von Störungen in der klinischen Psychologie. Sie untersuchen jedoch nicht die allgemeine Bedeutung von Normalität. Dennoch können wir sie nutzen, um unser persönliches Konzept von Normalität und Anormalität zu hinterfragen.
Normalität nach dem Sozialkonstruktivismus
Der Sozialkonstruktivismus könnte uns helfen, eine bessere Definition von Normalität zu erhalten. Er erklärt, dass die Interaktion der Menschen mit ihrer Umgebung alles Wissen schaffe. Im Grunde genommen werde die Vorstellung davon, was normal sei, durch unsere Beziehung zu unserer Umgebung konstruiert.
Das bedeutet, dass wir nie in der Lage sein werden, über Normalität im Allgemeinen zu sprechen. Wir werden sie immer innerhalb eines Kontexts betrachten. Es spielt daher keine Rolle, welchen Ansatz wir verwenden, um zu definieren, was pathologisch ist, da alle Menschen aus sozialer Sicht über Normalität und Anomalie entscheiden. Diese Theorie lässt uns dieses Thema in einem anderen Licht sehen, könnte sogar eine ethische und moralische Debatte auslösen.
Wir könnten also sagen, dass Normalität ein soziales Konstrukt sei, das jene Verhaltensweisen, Ideen und Eigenschaften umfasse, die an eine Gesellschaft angepasst seien. Sie ist die Essenz des Prozesses zur Selbstregulierung der Gesellschaft. Fangen wir an, Anomalien als ein von der Gesellschaft geschaffenes Konzept anstelle eines Persönlichkeitsmerkmals zu betrachten: Nicht alles, was seltsam oder komisch ist, hat mit negativen oder problematischen Eigenschaften einer Person zu tun.
Tatsächlich ist es die Gesellschaft, die Verhaltensweisen, Eigenschaften oder Ideen wegen Vorurteilen und Kritik ausschließt. Dies ist besonders gut zu erkennen, wenn wir betrachten, wie sich die zunehmende Toleranz gegenüber einer Vielzahl von Verhaltensweisen, Handlungen und Gefühlen im Laufe der Geschichte ausgewirkt hat: Von der Verfolgung von Hexen und allen, die “anders” waren, bis hin zur Akzeptanz der gleichgeschlechtlichen Ehe war es ein langer Weg. Ein noch viel längerer Wegabschnitt liegt noch vor uns.
“Normalität ist ein schönes Ideal für diejenigen, die keine Fantasie haben.”
Carl Gustav Jung