Müssen wir erst Extremsituationen erleben, um das Leben wertschätzen zu können?

Müssen wir erst Extremsituationen erleben, um das Leben wertschätzen zu können?
Ana Gorrochategui

Geschrieben und geprüft von der Psychologin Ana Gorrochategui.

Letzte Aktualisierung: 01. Mai 2023

Ein Unfall, eine Krankheit, jemand stirbt oder ein Mensch geht und kommt nicht wieder zurück – all das sind Extremsituationen, in denen die Uhr stillsteht. Und auf einmal macht es Klick und wir verstehen, dass unsere Lebenszeit begrenzt und alles vergänglich ist. Und ich würde sagen, dass wir das Leben meist nicht ausreichend wertschätzen, selbst wenn es alles ist, was wir haben.

Die Routine hüllt uns in ihr Gewand und wir lassen uns gehen. Wir wollen mehr, obwohl wir manchmal nicht wissen, wovon wir mehr wollen. Wir vernachlässigen Beziehungen, die wir einst als wertvoll erachteten und legen uns selbst schwere Ketten an, die uns die Luft zum Atmen nehmen. Wir haben uns daran gewöhnt, dass die Dinge laufen, ohne dass sie fließen, wie an den Komfort eines Zuhauses – ohne darauf zu achten, ob es ein Zuhause ist.

Gewöhnung = emotionale Anästhesie?

Wenn wir uns an etwas gewöhnen, lernen wir, weniger häufig und intensiv auf Reize zu reagieren, denen wir wiederholte Male begegnen. Wir schenken Dingen keine Aufmerksamkeit mehr, die wir als selbstverständlich erachten. Wir verlieren aus den Augen, wie wichtig es ist, weiser zu sein, oder wie glücklich wir uns schätzen können, von den von uns geliebten Menschen weiterhin auf unserem Lebensweg begleitet zu werden, bis wir eines Tages Extremsituationen erleben.

Manchmal zerstört das Schicksal auf einmal alles, reißt Mauern, Konzepte und Lebensarten nieder. Es kommt uns wie eine Lüge vor, aber hin und wieder brauchen wir Extremsituationen, um das Leben wertschätzen zu können. Und in diesen Zeiten schätzen wir dann das, was uns bleibt, und uns wird bewusst, wie absurd es war, diesen Sachen keine Zuneigung und Aufmerksamkeit zu schenken, als wir sie hatten.

Traurige Frau sitzt am Meer

Wir wissen, dass das Leben irgendwann zu Ende ist, doch die meisten Menschen, denen ich begegnet bin und die das Leben in vollen Zügen auskosten, haben Angst davor, es zu verlieren oder fürchten sich vor der Zerbrechlichkeit des „heute bin ich hier, was morgen sein wird, das weiß ich nicht“. Damit will ich nicht sagen, dass wir keine Pläne mehr für die Zukunft schmieden oder nicht mehr langfristig denken sollen. Was ich vermitteln möchte, ist die Botschaft, dass das Leben heute stattfindet. Es passiert im Hier und Jetzt. Und dass du, wenn du an gestern denkst oder dich um morgen sorgst, nicht wahrnimmst, wie kraftvoll der heutige Tag ist. Vielleicht verlierst du dein Leben gerade heute, auf deinem Lebensweg.

Das Leben wertzuschätzen, bedeutet nicht, der Routine zu entfliehen

Das Leben wertzuschätzen, bedeutet weder, vor der Routine zu fliehen, noch nach extremen Gefühlen zu suchen, damit du merkst, dass dein Herz schlägt. Dafür sollten wir auch keine Extremsituationen brauchen. Es bedeutet, die Augen zu öffnen, auf Kleinigkeiten zu achten und die Zeit zu genießen. Es bedeutet, dir dessen bewusst zu werden, was du bist und hast, um dafür dankbar zu sein und um dafür zu kämpfen, damit du dich weiterhin daran erfreuen kannst. Und es bedeutet, dem Aufmerksamkeit zu schenken, was nicht funktioniert, um es zu reparieren und dafür zu sorgen, dass der morgige Tag zu einem Tag wird, an dem es wieder intakt ist. Das Leben wertzuschätzen, bedeutet, kurz gesagt, die Zeit sinnvoll zu nutzen und zu verstehen, dass man neue Hoffnung haben kann, ohne dafür zwangsläufig in neue Schuhe schlüpfen zu müssen. 

Vor Kurzem hat jemand mit mir darüber gesprochen, wie sehr er es bereute, sich in seinem Leben so sehr auf Verpflichtungen konzentriert zu haben. Dieser Mensch sagte mir, dass er das Gefühl hatte, er habe oftmals Zeit verloren, indem er Menschen (wegen des Gefühls der Verpflichtung) in persönliche Räume vorgelassen oder (wegen des gleichen Gefühls der Verpflichtung) sehr lange gearbeitet hatte. Besonders bedauerte er jene Tage, an denen er seine Kinder nicht einmal gesehen hatte.

Lebensfrohe Frau streckt Hände in den Himmel

Ich schreibe diese Zeilen, weil es Sachen im Leben gibt, die dieses Gefühl der Verpflichtung nicht verdienen, da sie einfach nicht so wichtig sind. Und ich schreibe das auch, weil es so wichtige Dinge gibt, bei denen es ungerecht ist, sie als selbstverständlich zu sehen und ihren Wert zu missachten, nur weil sie sich so oft ereignen oder uns nie gefehlt haben. Und deshalb später zu bereuen.

„Im Leben gewinnt man nicht und man verliert auch nicht, man scheitert nicht und man triumphiert auch nicht. Im Leben lernt man, man wächst, man entdeckt; man schreibt, radiert aus und schreibt neu; man knüpft, entwirrt und verknüpft wieder.“

Ana C. Blum

Erinnere dich selbst daran, zu atmen, dir und den Menschen in deinem Umfeld zuzuhören. Schenke den kleinen Dingen im Alltag Aufmerksamkeit, und du solltest auch sehen, wie wichtig ein schöner Nachmittag ist. Genieße und investiere Zeit, als wäre heute dein letzter Tag. Du solltest kurz innehalten und darüber nachdenken, dass unsere Zeit begrenzt ist. Aber noch haben wir Zeit und diese Zeit gehört uns. Diese Zeit ist genau jetzt und darüber müssen wir uns im Klaren werden. Es sollten keine Extremsituationen notwendig sein, um das Leben wertschätzen zu können, denn es ist an sich schon wertvoll. 


Dieser Text dient nur zu Informationszwecken und ersetzt nicht die Beratung durch einen Fachmann. Bei Zweifeln konsultieren Sie Ihren Spezialisten.