Kognitive Verzerrungen verstehen: Häufige Vorurteile anhand von Beispielen
Wir neigen dazu, unsere Fähigkeiten zu unterschätzen, die Vergangenheit zu idealisieren oder unsere Aufmerksamkeit selektiv auf bestimmte Dinge zu richten. Es gibt viele Beispiele für kognitive Verzerrungen – jene mentalen Abkürzungen, die unsere Wahrnehmung und das Verarbeiten von Informationen beeinflussen. Sie entstehen durch die begrenzte Fähigkeit unseres Gehirns, große Mengen an Daten zu verarbeiten und werden oft durch persönliche Erfahrungen, Erziehung, Kultur, Emotionen und das Bedürfnis nach Kontrolle und Vorhersagbarkeit geprägt.
Wenn du dir der kognitiven Verzerrungen bewusst wirst, kannst du Fehler reduzieren und rationaler sowie fairer handeln. Diese Denkfehler definieren dich nicht, da sie unbewusst von uns allen angewendet werden. Obwohl sie uns schnelle Entscheidungen ermöglichen, führen sie oft zu fehlerhaften Interpretationen, Fehlurteilen oder unüberlegtem Verhalten.
Der Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahneman hat viele dieser Verzerrungen untersucht. In seinem Buch Schnelles Denken, langsames Denken beschreibt er fast 180 verschiedene Arten von kognitiven Verzerrungen, die uns in unserem Denken behindern und oft dazu führen, dass wir auf logisches Denken verzichten. Sich dieser Verzerrungen bewusst zu werden, ist ein wichtiger Schritt in Richtung persönlicher Verantwortung. Hier sind einige der häufigsten:
Schon gelesen? Der Semmelweis-Reflex, ein uraltes Vorurteil
1. Bestätigungsfehler
Dieser Fehler beschreibt die Tendenz, Informationen zu suchen und zu interpretieren, die unsere bereits bestehenden Überzeugungen bestätigen. Gleichzeitig ignorieren wir oder werten Daten ab, die unseren Ansichten widersprechen. Der menschliche Geist bevorzugt es, sich mit Informationen auseinanderzusetzen, die seine bestehenden Überzeugungen unterstützen.
Beispiel: Martina glaubt, dass eine bestimmte Diät der beste Weg für ihre Tochter ist, Gewicht zu verlieren. Sie sucht nach Artikeln und Studien, die diese Meinung stützen, während sie Studien ignoriert, die das Gegenteil zeigen.
2. Verankerung
Hierbei handelt es sich um die Tendenz, Entscheidungen auf der ersten Information zu basieren, die man erhält – diese Information wird als „Anker“ wahrgenommen und beeinflusst alle folgenden Entscheidungen.
Beispiel: Ein Fernseher wird ursprünglich für 900 Euro angeboten, doch dann wird er auf 600 Euro reduziert. Käufer sehen den neuen Preis als Schnäppchen an, ohne zu hinterfragen, ob der ursprüngliche Preis gerechtfertigt war.
3. Halo-Effekt
Dieser Effekt tritt auf, wenn wir von einem positiven Eindruck einer Person auf andere Eigenschaften schließen, die nicht miteinander verbunden sind. Ein gutes äußeres Erscheinungsbild kann zum Beispiel die Wahrnehmung der Intelligenz oder Kompetenz beeinflussen.
Beispiel: Ein gut gekleideter und charismatischer Bewerber wird während eines Vorstellungsgesprächs als kompetenter wahrgenommen, obwohl sein Lebenslauf nicht so stark ist wie der anderer Kandidaten.
4. Verfügbarkeitsheuristik
Wir neigen dazu, Entscheidungen auf der Grundlage von Informationen zu treffen, die uns am leichtesten in den Sinn kommen, oft weil sie emotional aufgeladen sind oder einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben.
Beispiel: Wenn du ständig von Raubüberfällen in deiner Stadt hörst, könntest du glauben, die Kriminalität nehme zu, auch wenn die tatsächlichen Statistiken etwas anderes belegen.
5. Dunning-Kruger-Effekt
Dieser Effekt beschreibt ein kognitives Vorurteil, bei dem Menschen mit geringem Wissen oder wenig Erfahrung in einem bestimmten Bereich ihre eigenen Fähigkeiten stark überschätzen. Sie haben oft nicht die nötige Kompetenz, um ihre eigene Unwissenheit zu erkennen, was zu einer übertriebenen Selbstsicherheit führt.
Beispiel: Dein Nachbar liest ein paar Artikel über den Aktienmarkt und glaubt sofort, ein Experte zu sein, während er die tatsächliche Komplexität der Börse ignoriert.
6. Eigennützige Voreingenommenheit
Diese Verzerrung beschreibt die Tendenz, den eigenen Erfolg auf interne Faktoren wie Fähigkeiten oder Anstrengungen zurückzuführen und Misserfolge auf äußere Umstände wie Pech oder das Verhalten anderer.
Beispiel: Du wirst befördert und führst dies auf deine harte Arbeit zurück, während du eine Niederlage in einem Projekt auf das Verhalten deiner Kollegen oder ungünstige äußere Umstände schiebst.
7. Negativitätsbias
Dieser Fehler zeigt sich darin, dass negative Erfahrungen oder Informationen überbewertet werden. Evolutionär könnte dies einen Überlebensvorteil verschaffen, indem wir unangenehme oder potenziell gefährliche Situationen priorisieren.
Beispiel: Du fährst seit 20 Jahren Auto und hattest einmal einen kleinen Unfall auf einer Autobahn. Seitdem vermeidest du diese Straßen, obwohl das Risiko nicht höher ist als auf anderen Strecken.
8. Optimismus-Bias
Diese Verzerrung betrifft den Glauben, dass einem immer das Gute widerfahren wird und man von allen negativen Ereignissen verschont bleibt.
Beispiel: Elias spart kein Geld, weil er überzeugt ist, dass er nie finanzielle Schwierigkeiten haben und immer einen sicheren Job haben wird.
9. Einzigartigkeits-Bias
Dieser Effekt beschreibt die Tendenz zu glauben, dass unsere eigenen Eigenschaften oder Fähigkeiten einzigartig sind. Dabei wird unterschätzt, dass viele andere Menschen ähnliche Fähigkeiten haben könnten.
Beispiel: Andrea glaubt, dass sie die kreativste Mitarbeiterin in ihrem Unternehmen ist und dass niemand so originelle Ideen haben kann wie sie.
10. Vertrautheitseffekt
Dieses kognitive Vorurteil beschreibt die Tendenz, Dinge oder Marken zu bevorzugen, die uns vertraut sind, ohne diese bewusst zu hinterfragen.
Beispiel: Elena kauft immer das gleiche Waschmittel, das sie von ihrer Mutter kennt, ohne andere Marken zu testen, obwohl es möglicherweise bessere Optionen gibt.
11. Autoritäts-Bias
Dieser Effekt zählt zu den bekanntesten kognitiven Verzerrungen. Er beschreibt die Tendenz, die Meinungen und Ratschläge von Autoritätspersonen zu akzeptieren, ohne sie jemals infrage zu stellen. Diese Art der Verzerrung kann gefährlich sein, da wir leicht falsche oder unzureichende Informationen übernehmen, nur weil sie von jemandem stammen, den wir als kompetent oder vertrauenswürdig ansehen.
Beispiel: Karl folgt einem Experten für Kryptowährungen und Wirtschaftsinvestitionen in sozialen Netzwerken. Statt die Ratschläge kritisch zu hinterfragen, folgt er blind den Empfehlungen dieses Experten und setzt dabei seine Ersparnisse aufs Spiel, ohne die nötigen Hintergründe oder Risiken zu überprüfen.
12. Rückschaufehler
Bei dieser kognitiven Verzerrung idealisieren Betroffene die Vergangenheit. Sie erinnern sich nur an die positiven Aspekte und neigen dazu, negative Erfahrungen zu vergessen oder herunterzuspielen. Diese Tendenz zeigt, wie unser Gedächtnis von Emotionen beeinflusst wird und wie wir die Vergangenheit oft neu interpretieren, um sie mit unseren aktuellen Bedürfnissen oder Wünschen in Einklang zu bringen.
Beispiel: Lola verbrachte einen stressigen Urlaub mit mehreren Rückschlägen wie Flugverspätungen, Problemen mit der Unterkunft und sogar einem Raubüberfall. Doch wenn sie sich zurückerinnert, erinnert sie sich nur an die Momente der Entspannung und des Lachens mit ihren Freunden und blendet die negativen Erlebnisse weitgehend aus.
13. Blind-Spot-Bias
Der Blind-Spot-Bias ist eine kognitive Verzerrung, bei der Menschen glauben, dass sie selbst weniger anfällig für kognitive Verzerrungen sind als andere. Obwohl wir leicht erkennen können, wenn andere voreingenommen oder irrational handeln, fällt es uns schwer, diese Verzerrungen bei uns selbst wahrzunehmen. Das liegt daran, dass unser Gehirn dazu neigt, unsere eigenen Urteile als objektiv und vernünftig einzustufen, während wir die Fehler und Verzerrungen bei anderen leichter identifizieren.
Beispiel: Claudia ist überzeugt, dass sie niemals irrationale Entscheidungen aufgrund von Vorurteilen trifft. Sie hält sich selbst für objektiv und unvoreingenommen, während sie gleichzeitig die fehlerhaften Urteile ihrer Familie kritisiert, ohne zu bemerken, dass auch sie selbst in ähnlicher Weise betroffen ist.
14. Survivorship-Bias
Diese kognitive Verzerrung führt dazu, dass sich jemand ausschließlich auf erfolgreiche Fälle konzentriert und gescheiterte oder nicht sichtbare Fälle ignoriert. Dadurch entsteht ein verzerrtes Bild der Realität, da die betroffene Person nur die “Überlebenden” betrachtet und nicht diejenigen, die gescheitert oder nicht berücksichtigt wurden.
Beispiel: Ein Personalbeschaffungsmanager in einem großen Unternehmen fokussiert sich ausschließlich auf Bewerber, die in der Vergangenheit in einer bestimmten Branche erfolgreich waren, und ignoriert jene, die aufgrund von Misserfolgen wertvolle Erkenntnisse über Fehler und Herausforderungen vermitteln könnten.
15. Vorausschauverzerrung
Die Vorausschauverzerrung beschreibt die Neigung anzunehmen, dass andere Menschen unsere gleichen Werte, Überzeugungen oder Gefühle teilen. Diese Verzerrung kann zu Missverständnissen und Konflikten führen, da wir die Welt aus unserer eigenen Perspektive sehen und diese auf andere übertragen.
Beispiel: Klara ist der festen Überzeugung, dass jeder ihren Lieblingsfilm bewundert, weil sie ihn als besonders großartig empfindet. Doch als sie es ihrem Partner erzählt, offenbart er ihr, dass er den Film als schmerzhaft und unerträglich empfindet – eine völlig andere Meinung, die Klara überrascht.
16. Ergebnisverzerrung
Auch dieser Effekt zählt zu den häufigsten kognitiven Verzerrungen. Dzu kommt es, wenn wir eine Entscheidung oder Handlung nur anhand des Ergebnisses bewerten, ohne den Kontext oder die Umstände zu berücksichtigen. Es ist die Tendenz, eine Handlung als „richtig“ oder „intelligent“ zu beurteilen, nur weil das Ergebnis zufällig positiv war.
Beispiel: Ein Schüler entscheidet sich, für eine Prüfung nicht zu lernen, und erhält trotzdem eine gute Note, weil die Prüfung einfach war. Er bewertet seine Entscheidung als klug und „erfolgreich“, ohne zu erkennen, dass das Ergebnis eher dem Glück geschuldet war als einer tatsächlichen klugen Entscheidung.
17. Framing-Effekt
Der Framing-Effekt beschreibt die Tendenz, dass unsere Entscheidungen stark davon abhängen, wie Informationen präsentiert werden, auch wenn der Inhalt objektiv derselbe bleibt. Die Art und Weise, wie eine Botschaft formuliert wird – positiv oder negativ –, kann unser Denken beeinflussen und uns dazu bringen, unterschiedliche Entscheidungen zu treffen.
Beispiel: Du entscheidest dich für den Kauf eines Joghurts, der als „90 % fettfrei“ beworben wird, anstatt einen anderen, der „10 % Fett“ enthält – obwohl beide Produkte letztlich denselben Nährwert haben. Du lässt dich vom positiven Framing der ersten Option täuschen.
18. Status-Quo-Verzerrung
Die Status-Quo-Verzerrung beschreibt unsere Tendenz, Veränderungen zu vermeiden und den aktuellen Zustand beizubehalten, auch wenn eine Veränderung möglicherweise bessere Ergebnisse bringen würde. Diese Verzerrung führt dazu, dass wir Veränderungen als riskant oder unangenehm empfinden, auch wenn sie objektiv vorteilhaft sein könnten.
Beispiel: Du bleibst bei einem teuren Internetdienst, weil der Wechsel zu einem günstigeren Anbieter zu kompliziert erscheint. Obwohl es viele bessere Optionen auf dem Markt gibt, hältst du an der bekannten, aber weniger vorteilhaften Lösung fest.
19. Informations-Bias
Diese Verzerrung beschreibt die Tendenz, mehr Informationen zu suchen, als für eine Entscheidung eigentlich notwendig sind. Oft glauben wir, dass mehr Informationen immer zu besseren Entscheidungen führen, was jedoch nicht immer der Fall ist. Manchmal führt diese Überflutung mit Daten dazu, dass wir überfordert sind und die Entscheidung verzögern oder gar blockiert wird.
Beispiel: Du liest 64 Bewertungen zu einem Produkt, obwohl bereits die ersten 10 Rezensionen dir einen klaren Überblick gegeben hätten. Die zusätzliche Information hilft dir nicht wirklich, sondern sorgt nur dafür, dass du dich unnötig verzettelst.
20. Kontrollillusion
Die Kontrollillusion ist das Gefühl, mehr Kontrolle über Ereignisse zu haben, als tatsächlich möglich ist. Wir neigen dazu zu glauben, dass wir den Ausgang von Ereignissen beeinflussen können, die eigentlich außerhalb unserer Kontrolle liegen. Diese Verzerrung führt oft zu übermäßiger Selbstsicherheit und kann uns in gefährliche oder unsichere Situationen führen.
Beispiel: Sara dachte lange, dass ihre Freundin Anabel immer an ihrer Seite sein würde. Doch seit Anabel Mutter geworden ist und Sara mehr Zeit mit neuen Kollegen verbringt, hat sich ihre Beziehung verändert, und sie merkt, dass sie die Kontrolle über ihre Freundschaften nicht so leicht hatte, wie sie angenommen hatte.
21. Kontrasteffekt
Der Kontrasteffekt ist eine kognitive Verzerrung, bei der deine Wahrnehmung oder Bewertung durch den Vergleich mit vorherigen oder nachfolgenden Eindrücken beeinflusst wird.
Beispiel: Auf der Speisekarte eines Restaurants steht ein extrem teures Gericht. Plötzlich erscheinen dir die mittelpreisigen Optionen als günstig – auch wenn sie in anderen Restaurants immer noch teuer wären.
22. Endowment-Effekt
In diesem Fall neigst du dazu, Dinge als wertvoller zu betrachten, nur weil sie dir gehören. Das gilt nicht nur für Gegenstände, sondern auch für Menschen oder persönliche Überzeugungen.
Beispiel: Lucas weigert sich, einen alten Sessel wegzugeben, den er nicht mehr nutzt – einfach, weil er ihn seit seiner Kindheit besitzt und ihn als Teil seiner Identität sieht.
23. Selektive Aufmerksamkeitsverzerrung
Oft konzentrierst du dich auf bestimmte Aspekte einer Situation und blendest andere aus. Dadurch verlierst du wertvolle Informationen, die deine Wahrnehmung verändern könnten.
Beispiel: Du hältst einen Politiker für inkompetent, nur weil dir sein Kleidungsstil nicht gefällt – und übersiehst dabei seine echten Qualifikationen und Leistungen.
24. Emotionale Ansteckung
Emotionen sind ansteckend! Ohne es zu merken, übernimmst du oft die Stimmungen anderer, auch wenn du die Situation gar nicht genau kennst. Besonders empathische Menschen sind davon betroffen.
Beispiel: Mathias wird unruhig und gestresst, sobald sein Partner Probleme auf der Arbeit hat – so sehr, dass er selbst nicht mehr weiß, wie er ihm helfen kann.
25. Sunk-Cost-Fallacy
Die Sunk-Cost-Fallacy (Falle der versunkenen Kosten) ist eine kognitive Verzerrung, bei der du weiterhin Zeit, Geld oder Energie in etwas investierst, nur weil du bereits viel darin investiert hast – selbst wenn es rational gesehen keinen Sinn mehr ergibt.
Beispiel: Michael hat vor sieben Jahren mit einer Feuerwehr-Ausbildung begonnen. Obwohl er längst erkannt hat, dass es nicht seine Leidenschaft ist und er die körperlichen Tests wahrscheinlich nie bestehen wird, hält er stur daran fest – weil seine bisherigen Bemühungen nicht umsonst sein sollen.
26. Reziproke Naivitätsverzerrung
Es handelt sich um eine kognitive Verzerrung, bei der du annimmst, dass die Handlungen anderer egoistisch oder eigennützig motiviert sind, während du deine eigenen Handlungen als selbstlos oder fair wahrnimmst – selbst wenn beide aus denselben Gründen handeln.
Beispiel: Klaus ist überzeugt, dass sein Kollege nur am neuen Projekt mitarbeitet, um sich bei den Chefs beliebt zu machen. Dabei übersieht er, dass er selbst genau dasselbe tut.
27. Gruppenillusion
Du hältst deine eigene Gruppe (sei es deine Familie, dein Team oder deine Kultur) für überlegen – unabhängig von objektiven Fakten.
Beispiel: María del Carmen ist überzeugt, dass ihr Arbeitsteam das effizienteste im Unternehmen ist – obwohl die Leistungskennzahlen eine andere Sprache sprechen.
28. False-Memory Effekt
Diese Erinnerungsverfälschung lässt dich unbewusst falsche oder verzerrte Erinnerungen erschaffen, sodass du von Dingen überzeugt bist, die so nie passiert sind.
Beispiel: Anna ist sich sicher, dass ihr Bruder als Kind beinahe im Pool seiner Großeltern ertrunken ist – doch in Wahrheit war es der Nachbarsjunge, nicht ihr Bruder.
29. Bystander-Effekt (Zuschauereffekt)
Dieser Effekt beschreibt ein psychologisches Phänomen, bei dem die Wahrscheinlichkeit, dass jemand in einer Notsituation hilft, umso geringer ist, je mehr Menschen anwesend sind. Jeder geht davon aus, dass jemand anderes eingreifen wird – und am Ende tut oft niemand etwas.
Beispiel: Johannes sieht einen Mann ohnmächtig auf der Straße liegen. Statt einzugreifen, geht er weiter – in der Annahme, dass jemand anderes helfen wird, weil viele Menschen anwesend sind.
30. Reaktivitätsbias
Die Reaktivitätsbias beschreibt das Phänomen, dass Menschen ihr Verhalten ändern, wenn sie wissen, dass sie beobachtet werden. Diese Verzerrung tritt häufig in psychologischen Studien auf, wenn Teilnehmer nicht mehr natürlich handeln, weil sie sich bewusst sind, dass sie Teil eines Experiments sind.
Beispiel: Sobald dein Chef an deinem Schreibtisch vorbeigeht, arbeitest du plötzlich schneller. Sobald er weg ist, fällst du in dein normales Tempo zurück.
31. Pollyanna-Effekt
Dieser Effekt beschreibt eine kognitive Verzerrung, bei der du dich eher an die positiven Aspekte einer Erfahrung erinnerst, während die negativen in den Hintergrund treten oder ganz vergessen werden. Diese Voreingenommenheit kann als eine Art psychologischer Abwehrmechanismus dienen, der hilft, das eigene Wohlbefinden zu schützen.
Beispiel: Robert, 70 Jahre alt, spricht mit Nostalgie über seine frühere Arbeit im Kraftwerk. Dabei blendet er vollkommen aus, wie sehr ihn der Job damals gestresst hat und welche negativen Auswirkungen das auf seine Familie hatte.
32. Repräsentativitätsbias
Diese Verzerrung führt dazu, dass du Urteile fällst, indem du dich auf Stereotypen verlässt, anstatt eine objektive, analytische Betrachtung vorzunehmen. Du gehst davon aus, dass eine Person oder Situation eine bestimmte Eigenschaft haben muss, nur weil sie einer gängigen Vorstellung entspricht.
Beispiel: Natalia glaubt, dass ihre Nachbarin Bibliothekarin ist, weil sie eine Brille trägt und viel liest. Dabei übersieht sie, dass es viele andere Berufe gibt, in denen Menschen diese Eigenschaften haben.
33. Neuheitseffekt
Diese kognitive Verzerrung lässt dich neuen Informationen oft mehr Bedeutung beimessen als älteren, auch wenn die alten Informationen objektiv hilfreicher oder relevanter wären.
Beispiel: Jemand kauft das neueste Smartphone-Modell nur, weil es neu ist – obwohl sein aktuelles Handy alle seine Bedürfnisse erfüllt. Die Annahme, dass das neue Gerät automatisch besser sei, basiert nicht unbedingt auf echten Fakten.
34. Unterlassungseffekt
Dieser Bias führt dazu, dass du Schäden, die durch Nichtstun entstehen, als weniger schlimm empfindest als Schäden, die durch eine bewusste Handlung verursacht werden – auch wenn beide dieselben Konsequenzen haben können.
Beispiel: Ein Mitarbeiter entdeckt einen kritischen Fehler in einem Bericht, entscheidet sich aber, nichts zu sagen, weil er glaubt, dass es nicht seine Verantwortung ist. Als das Projekt scheitert, sieht er sich nicht in der Schuld, weil er ja “nichts getan” hat.
35. Bandwagon-Effekt
Der Mitläufereffekt beschreibt die Neigung, Überzeugungen, Verhaltensweisen oder Entscheidungen zu übernehmen, nur weil viele andere Menschen das Gleiche tun. Die kritische Reflexion über die eigene Wahl tritt dabei in den Hintergrund.
Beispiel: Barbara und ihr Partner investieren in Kryptowährungen, weil sie hören, dass „alle“ es tun und es ein großer Trend ist – ohne sich über die tatsächlichen Risiken oder Grundlagen dieser Investition zu informieren.
36. Emotionale Verankerung
Hierbei handelt es sich um eine Verzerrung, bei der deine Emotionen Entscheidungen beeinflussen – selbst wenn sie gar nichts mit der eigentlichen Situation zu tun haben.
Beispiel: Nach einem heftigen Streit gönnst du dir einen teuren Shopping-Trip mit der Begründung, dass du „dir etwas Gutes tun musst“, obwohl der Kauf in keiner Weise zur Lösung des Problems beiträgt.
37. Illusorische Korrelation
Diese kognitive Verzerrung führt dazu, dass du eine Verbindung zwischen zwei Ereignissen herstellst, obwohl es gar keinen tatsächlichen Zusammenhang gibt. Dies kann zu irreführenden Annahmen und Vorurteilen führen.
Beispiel: Ein Firmenchef bemerkt, dass zwei junge Mitarbeiter in derselben Woche zu spät kommen. Sofort zieht er den Schluss, dass junge Menschen generell unzuverlässig seien – dabei übersieht er, dass auch ältere Mitarbeiter manchmal zu spät kommen und dass es sich um Zufälle handeln könnte.
38. Primäreffekt
Dieser Effekt tritt auf, wenn du dich besonders gut an Informationen erinnerst, die du zuerst erhalten hast – während spätere Informationen in den Hintergrund rücken oder sogar vergessen werden.
Beispiel: Wenn du mehrere neue Leute triffst, merkst du dir meist eher die Namen der ersten Personen, die sich vorgestellt haben, während du die späteren Namen oft schnell vergisst.
39. Rezenzeffekt
Der Rezenzeffekt (auch Recency-Effekt) ist eine kognitive Verzerrung, bei der sich Menschen besser an die zuletzt erhaltenen Informationen erinnern als an frühere – also genau das Gegenteil des Primäreffekts. Dies geschieht, weil die jüngsten Informationen noch im Kurzzeitgedächtnis präsent sind und daher leichter abgerufen werden können.
Beispiel: Beim Verfolgen einer politischen Debatte bleiben dir besonders stark die Argumente des letzten Redners im Gedächtnis, während die früheren Beiträge zunehmend verblassen.
40. Kategorisierungsbias
Diese kognitive Verzerrung tritt auf, wenn du Menschen, Informationen oder Erlebnisse in festgelegte Kategorien einteilst. Dies führt oft zu übermäßigen Vereinfachungen, Fehlinterpretationen und Stereotypen.
Beispiel: Peters Vater lehnt es ab, dass sein Sohn Künstler wird, weil er glaubt, dass Künstler „unkonventionell, unorganisiert und finanziell unsicher“ leben. Dabei ignoriert er, dass es viele erfolgreiche und strukturierte Künstler gibt.
41. Ausschlussbias
Diese Verzerrung tritt auf, wenn du relevante Informationen bewusst ignorierst, nur weil sie nicht mit deinen Überzeugungen oder Werten übereinstimmen. Das kann nicht nur dein persönliches Wachstum behindern, sondern auch gesellschaftlichen Fortschritt bremsen.
Beispiel: Jonas ist Professor und lehnt einen wissenschaftlichen Artikel zum Klimawandel ab, weil dessen Inhalte nicht mit seiner eigenen Position zu diesem Thema übereinstimmen.
42. Falsche-Konsensus-Effekt
Hierbei überschätzt du die Verbreitung deiner eigenen Meinungen, Überzeugungen oder Werte und gehst fälschlicherweise davon aus, dass die meisten Menschen genauso denken wie du.
Beispiel: Elisa ist überzeugt, dass jeder lieber im Homeoffice arbeitet, weil es für sie persönlich ideal ist. Dabei übersieht sie, dass viele ihrer Kollegen die Arbeit vor Ort bevorzugen.
43. Selbstüberschätzungs-Bias
Diese kognitive Verzerrung führt dazu, dass du deine eigenen Fähigkeiten oder dein Wissen überschätzt. Du bist überzeugt, dass deine Einschätzungen besonders präzise sind – oft mit der Folge, dass du Fehlentscheidungen triffst.
Beispiel: Rita bewirbt sich voller Selbstvertrauen um eine Stelle als Software-Ingenieur, ohne sich gründlich mit den geforderten Qualifikationen auseinanderzusetzen. Schon im ersten Bewerbungsgespräch wird ihr jedoch klar, dass ihr wichtige Kenntnisse fehlen.
44. Rückblicksverzerrung
Nachdem du den Ausgang einer Situation kennst, erscheint dir das Ergebnis im Nachhinein vorhersehbar oder offensichtlich – selbst wenn es das ursprünglich nicht war. Dadurch neigst du dazu, die Unsicherheiten und Zufälle, die zum Ergebnis geführt haben, zu unterschätzen.
Beispiel: Nach einer Trennung sagt dir deine Schwester: „Ich wusste schon immer, dass das nicht lange halten würde.“ Dabei ignoriert sie, dass sie es vorher nie wirklich gesagt oder gewusst hat.
45. Beobachter-Bias
Hierbei neigst du dazu, die Fehler anderer auf deren persönliche Schwächen zurückzuführen, während du deine eigenen Fehler mit äußeren Umständen entschuldigst.
Beispiel: Edu meint, sein Kollege habe eine Beförderung nicht bekommen, weil er nicht hart genug gearbeitet hat. Doch als er selbst für eine Führungsposition abgelehnt wird, erklärt er sich das damit, dass die Stelle ohnehin schon intern vergeben war.
46. Egozentrische Voreingenommenheit
Du bewertest deinen eigenen Beitrag zu einer Aufgabe oder Entscheidung als besonders hoch und unterschätzt gleichzeitig die Leistung anderer – oft ohne es zu merken.
Beispiel: Blanca ist überzeugt, dass sie den Großteil eines Gruppenprojekts geleistet hat, obwohl ihre Teammitglieder tatsächlich ebenso viel oder sogar mehr Arbeit investiert haben.
47. Hochstapler-Bias
Menschen mit dieser kognitiven Verzerrung glauben, dass sie ihre Erfolge nicht wirklich verdient haben. Sie führen ihre Leistungen auf Glück oder Täuschung zurück und fürchten, irgendwann als „Betrüger“ entlarvt zu werden.
Beispiel: Marta wurde ausgewählt, ein wichtiges Raumfahrtprojekt zu leiten. Doch anstatt sich über ihre Leistung zu freuen, ist sie überzeugt, dass sie die Position nicht verdient. Sie hat Angst, Fehler zu machen und dass andere merken, dass sie „gar nicht so kompetent ist“.
48. Handlungsvoreingenommenheit
Diese Verzerrung führt dazu, dass du lieber handelst, anstatt abzuwarten – selbst wenn Inaktivität manchmal die bessere Option wäre.
Beispiel: Anton ist Investor. Als die Börsenkurse fallen, verkauft er impulsiv alle seine Aktien, um „wenigstens etwas zu tun“. Dabei wäre es klüger gewesen, die Märkte zu beobachten und eine fundierte Entscheidung zu treffen. Seine Aktion führt letztendlich zu höheren Verlusten.
49. Illusionärer Wahrheitseffekt
Je öfter du eine Aussage hörst, desto eher hältst du sie für wahr – auch wenn sie falsch ist. Diese Verzerrung macht sich insbesondere in sozialen Medien und bei Fake News bemerkbar.
Beispiel: Manuela liest mehrfach auf Instagram, dass Kohlenhydrate am Abend den Blutdruck erhöhen. Obwohl es keine wissenschaftlichen Belege gibt, beginnt sie, diese Annahme als Tatsache zu akzeptieren und sogar mit anderen darüber zu diskutieren.
50. Zeigarnik-Effekt
Unvollendete Aufgaben oder unterbrochene Aktivitäten bleiben dir stärker im Gedächtnis als abgeschlossene Dinge. Diese kognitive Spannung sorgt dafür, dass du dich immer wieder mit dem Unvollendeten beschäftigst.
Beispiel: Jorge kann nicht aufhören, an ein Buch zu denken, das er mitten im Lesen unterbrochen hat. Das Buch, das er vor zwei Wochen zu Ende gelesen hat, ist ihm hingegen kaum noch präsent.
Kognitive Verzerrungen – Die unsichtbaren Denkfallen unseres Gehirns
Niemand ist vor kognitiven Verzerrungen gefeit. Sie beeinflussen unser Denken und Handeln und meistens sind wir uns darüber nicht bewusst. Sie helfen uns, Informationen schnell zu verarbeiten, aber sie können auch zu Fehlurteilen und Stereotypen führen.
Schon gelesen? 7 Vorurteile, die dein Wohlbefinden einschränken
Umso wichtiger ist es, sich dieser Denkfallen bewusst zu werden und die eigenen Annahmen kritisch zu hinterfragen. Ein klarerer, bewussterer und analytischerer Blick auf die Welt hilft dir, bessere Entscheidungen zu treffen – in einer Zeit, in der Informationen im Überfluss vorhanden sind und schnelles Urteilen an der Tagesordnung steht.
Alle zitierten Quellen wurden von unserem Team gründlich geprüft, um deren Qualität, Verlässlichkeit, Aktualität und Gültigkeit zu gewährleisten. Die Bibliographie dieses Artikels wurde als zuverlässig und akademisch oder wissenschaftlich präzise angesehen.
- Kahneman, D. (2012). Pensar rápido, pensar despacio. Debate
- Norris, C. J. (2021). The negativity bias, revisited: Evidence from neuroscience measures and an individual differences approach. Social Neuroscience, 16(1), 68-82. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/31750790/
- Perignat, E., & Fleming, F. F. (2022). Sunk‐cost bias and knowing when to terminate a research project. Angewandte Chemie (International Ed. in English), 61(36). https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/anie.202208429