Kann man sexuellen Missbrauch vergessen?

Menschen vergessen Daten, Namen, Gesichter ... Aber ist es möglich, sexuellen Missbrauch aus dem Gedächtnis zu löschen? Was sagt die Wissenschaft?
Kann man sexuellen Missbrauch vergessen?
Valeria Sabater

Geschrieben und geprüft von der Psychologin Valeria Sabater.

Letzte Aktualisierung: 13. November 2022

Unser Gehirn nutzt verschiedene Abwehrmechanismen, um uns vor Leid und traumatischen Erfahrungen zu schützen: Es ist ein Meister im Verdrängen und Unterdrücken, doch ist es in der Lage, sexuellen Missbrauch zu vergessen?

Traumatische Erlebnisse wirken sich auf die Lebensqualität der betroffenen Personen aus: Sie können unter anderem zu Persönlichkeitsveränderungen, Depressionen oder psychosomatischen Krankheiten führen. Angst ist ebenfalls eine Konstante im Leben dieser Menschen. 

Mann stellt sich die Frage: Kann man sexuellen Missbrauch vergessen?
Traumatische Ereignisse sind meistens das ganze Leben lang in irgendeiner Form präsent.

Kann man sexuellen Missbrauch vergessen?

Manche Menschen erinnern sich an ihren ersten Schultag, an Geburtstagsfeste, Spielnachmittage oder an einen Ausflug in die Natur. Sie verdrängen jedoch sexuellen Missbrauch, den sie in der Kindheit erleiden. Dieses prägende Trauma kann jedoch jederzeit durch ein Bild, ein Gefühl, einen Geruch oder die Erinnerung an eine bestimmte Szene wieder wach werden.

Die dissoziative oder psychogene Amnesie bewirkt jedoch, dass man sich an bestimmte traumatische Informationen nicht erinnert. Es handelt sich um eine Gedächtnisstörung, die häufig in der Folge von Kriegserlebnissen, sexuellem Missbrauch in der Kindheit oder extremen Naturkatastrophen auftritt.

Die Neurowissenschaft zeigt, dass das Gehirn durch traumatische Erfahrungen Veränderungen erfahren kann, die zu einer dissoziativen Amnesie führen können.

Dissoziative Amnesie: Vergessen, um zu überleben

Zu einer dissoziativen Amnesie kommt es häufig im Zusammenhang mit einer posttraumatischen Belastungsstörung. Das Diagnostische und Statistische Handbuch Psychischer Störungen (DSM) erkannte diese Gedächtnisstörung bereits 1980 an. Mit anderen Worten: Es gibt Menschen, die ein gewaltsames Ereignis vergessen, das sich jedoch trotzdem auf das Verhalten auswirkt.

Es gibt verschiedene Ausprägungen der traumatisch bedingten Amnesie:

  • Lokalisierte Amnesie: Betroffene vergessen nur das traumatische Ereignis.
  • Selektive Amnesie: Dies ist die häufigste Form der Amnesie. Das Opfer erinnert sich an kleine Fragmente des Erlebnisses, die sich oft mit falschen Erinnerungen vermischen.
  • Kontinuierliche Amnesie: Die Person leidet unter einer Leere, es gibt eine Blockade vom gewalttätigen Ereignis bis zur Gegenwart.
  • Generalisierte Amnesie: Dies ist der extremste klinische Zustand und auch der ungewöhnlichste. Die Person vergisst ihre Identität; sie weiß nicht, wer sie ist, woher sie kommt, und kennt ihre Familie nicht mehr.

Gehirnveränderungen

Dr. James Chu, Leiter des Programms für Trauma und dissoziative Störungen am McLean Hospital in Massachusetts, hat einige sehr aufschlussreiche Untersuchungen durchgeführt. Darin befragte er eine sehr große Gruppe von Frauen, die in ihrer Kindheit missbraucht worden waren, und führte mehrere MRT-Tests mit ihnen durch. Die Ergebnisse sind sehr aufschlussreich:

  • Patienten, die an dissoziativer Amnesie leiden, zeigen eine geringe Aktivität in der zerebralen Amygdala. Diese Region ist für die Modulation der Speicherung oder Konsolidierung des Gedächtnisses sowie für die Regulierung emotionaler Aspekte verantwortlich. Die Tatsache, dass ihre Aktivität reduziert ist, zeigt, dass das Gehirn versucht, Erinnerungen zu blockieren und die mit dem Trauma verbundenen Gefühle zu verdrängen.
  • Auch der präfrontale Kortex zeigt geringere Leistung. Das könnte erklären, warum Frauen, die an einer dissoziativen Amnesie leiden, Schwierigkeiten bei der Problemlösung, der Fokussierung der Aufmerksamkeit oder der Planung haben.
Kann man sexuellen Missbrauch vergessen?
Menschen, die Gewalt erlebt haben, erfahren Veränderungen im Gehirn.

 Warum erinnert sich eine Person plötzlich an ein traumatisches Ereignis?

Es gibt verschiedene Auslöser, die schmerzhafte Erinnerungen wachrütteln können. Ein Familiengespräch, ein Bild, ein Geruch oder eine Empfindung können zu einem Flashback führen. Auch wenn sich die betroffene Person nicht direkt an das Trauma erinnert,  ist dieses zumindest im Unterbewusstsein präsent. Und die Opfer leiden häufig an den Folgen wie Depressionen, Essstörungen, Beziehungsproblemen, sexuellen Probleme usw. Es handelt sich um mögliche Hinweise auf ein verstecktes Trauma.

Professionelle Hilfe

Ein Trauma erfordert professionelle Hilfe. Sexuellen Missbrauch kann man zwar aus dem Gedächtnis verdrängen, doch er ist trotzdem präsent und beeinflusst das gesamte Leben. Die Opfer können in einer Psychotherapie lernen, besser damit umzugehen, negative Gedanken zu verändern und ihre maladaptiven Verhaltensweisen abzulegen.

Es geht darum, die Wunden aus der Vergangenheit zu heilen und die Kontrolle über das eigene Leben zurückzugewinnen. Eine traumatische Kindheit muss nicht das ganze Leben bestimmen oder einschränken. Du kannst Resilienz entwickeln und lernen, mit deiner Vergangenheit richtig umzugehen.


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