Ist es möglich, ohne Freunde zu leben?

Ist es möglich, ohne Freunde zu leben? Hat das irgendwelche Konsequenzen für deine psychische Gesundheit? Heutzutage verbringen viele Menschen ihre Tage, ohne Vertrauen, Kontakt und Freundschaften mit anderen Menschen zu pflegen. In unserem heutigen Artikel wollen wir uns mit dieser Thematik eingehender befassen.
Ist es möglich, ohne Freunde zu leben?
Valeria Sabater

Geschrieben und geprüft von der Psychologin Valeria Sabater.

Letzte Aktualisierung: 18. November 2022

Kannst du ohne Freunde leben? Einige Menschen werden diese Frage folgendermaßen beantworten: “Natürlich kann ich das! Ich tue es nämlich. Ich habe keine Freunde und ich bin vollkommen lebendig.” Und das entspricht natürlich der Wahrheit.

Denn ein Mangel an sozialen Bindungen wird dich nicht umbringen. Dein Herz wird nicht aufhören zu schlagen und du wirst nicht einfach verblassen und sterben. Dennoch stellt sich die Frage, was für eine Art Leben du ohne Freunde führst? Fühlst du dich wohl oder empfindest du in dir eine große Leere?

Natürlich wird niemand sterben, nur weil er oder sie nicht wenigstens einen Freund hat. Aber in vielen Fällen führt dieser Umstand zu Traurigkeit, Enttäuschung und Mutlosigkeit. Denn einer der Gründe, warum Menschen einen Therapeuten aufsuchen, ist der, dass sie sich einsam und alleine fühlen. Sie sind nicht dazu in der Lage, solide soziale Bindungen zu knüpfen und haben niemanden, mit dem sie reden, lachen und gemeinsam gute Zeiten verleben können.

Wir Menschen sind soziale Wesen und unser Gehirn braucht hochwertige Interaktionen mit Gleichaltrigen, damit wir positive Gefühle empfinden, uns wertgeschätzt fühlen und ein Gefühl der Sicherheit erhalten können.

Wie wir bereits erwähnt haben, ist es aus evolutionspsychologischer Sicht für unser Überleben nicht notwendig, dass wir Freunde haben. Dennoch schenken uns Freunde mehr Lebensqualität und sie können dazu beitragen, dass wir wahres Glück finden.

ohne Freunde - drei Freundinnen

Ist es möglich, ohne Freunde zu leben?

Viele Menschen sind der Ansicht, dass die Qualität unserer sozialen Beziehungen durch die Erfahrungen genährt wird, die wir in unserer Familie gemacht haben. Allerdings ist diese Aussage nicht ganz zutreffend.

Einige Menschen haben eine traumatische Vergangenheit erlebt, weil sie mit missbrauchenden oder lieblosen Eltern aufgewachsen sind und sie waren dennoch dazu in der Lage, eine “wahre” Familie zu finden, die auf freundschaftlichen Bindungen aufgebaut ist. Darüber hinaus kann manchmal auch genau das Gegenteil passieren. Wenn du eine liebevolle Familie hattest, garantiert das nicht in jedem Fall, dass du dazu in der Lage bist, tiefe und feste Freundschaften aufzubauen und zu pflegen.

Unabhängig von der jeweiligen Ausgangssituation ist die Tatsache unbestritten, dass gute Freunde Farbe in dein Leben bringen und es bereichern können. Diese Menschen lernst du häufig beinahe zufällig kennen. Denn im Gegensatz zu deiner Familie sind dir diese Menschen nicht automatisch gegeben. Und ehe du dich versiehst, werden sie zu Weggefährten und zu unerwarteten Schätzen, die dich eine bestimmte Zeitspanne deines Lebens begleiten oder für immer an deiner Seite bleiben.

Es stimmt, dass einige Freunde kommen und gehen. Darüber hinaus gibt es falsche Freundschaften und wahre Freunde. Dennoch machen dich all diese Menschen auf die eine oder andere Weise zu einem besseren Menschen, denn von jedem lernst du etwas für dein Leben.

Allerdings gibt es Menschen, die aufgrund mangelnder sozialer Fähigkeiten oder aufgrund von Enttäuschungen, die sie in ihrem Leben erfahren haben, für eine lange Zeit ohne Freunde gelebt haben. Daher stellt sich die Frage: Kann man ohne Freunde leben?

Es ist möglich, ohne Freunde zu leben, weil wir in einer zunehmend individualistischen Gesellschaft leben

Ja, es ist absolut möglich, ohne Freunde zu leben. Tatsächlich haben die Forschungen, die von Dr. Melika Demir und Dr. Ingrid Davidson an der University von Arizona durchgeführt wurden, etwas sehr Interessantes ergeben. Es ist eine Erkenntnis, die dazu einlädt, über ihre Bedeutung nachzudenken.

Die Wissenschaftler haben entdeckt, dass Freundschaften uns tatsächlich dabei helfen, Glück zu empfinden. Allerdings ist dies nicht der wichtigste Faktor für den Menschen.

Denn der entscheidendste Faktor besteht in der Befriedigung der Grundbedürfnisse und dem Gefühl, wettbewerbsfähig zu sein. Das Gefühl der Unabhängigkeit, die Befriedigung der grundlegenden Bedürfnisse wie Nahrung, Arbeit, ein Zuhause oder sogar einen Partner zu haben, sind alle erst einmal erstrebenswerter. Und wir können noch einen weiteren Faktor ergänzen: “liquide Beziehungen”.

Wie es der Philosoph und Soziologe Zygmunt Bauman ausdrücken würde, die Gesellschaft wird zunehmend individualistischer. Dadurch werden Bindungen und Kontakte zerbrechlicher, unverlässlicher und sogar schwerer fassbar. Das führt dazu, dass Freunde kommen und gehen und nur sehr selten bleiben. Obwohl dies zu Unzufriedenheit führen kann, gewöhnen sich einige Menschen an diesen Zustand.

Ich brauche keine Freunde, weil ich mit vielen Menschen soziale Interaktionen habe

Menschen brauchen täglichen Zugang zu sozialen Interaktionen, wenigstens zu den ganz grundlegenden. Ein Gespräch mit Kollegen auf der Arbeit und eine Unterhaltung mit dem Nachbarn oder mit dem Verkaufspersonal im örtlichen Lebensmittelgeschäft.

All das führt dazu, dass du dich gut fühlst. Und manche Menschen müssen gar nicht darüber hinaus gehen, denn das genügt ihnen bereits. Diese Menschen wollen und beabsichtigen gar nicht, solide Bindungen aufzubauen, aus denen sich dann wahre Freundschaften entwickeln könnten.

Daher gibt es Männer und Frauen, für die diese ziemlich oberflächlichen Interaktionen tatsächlich ausreichend sind. Diese Menschen können auch mit Bestimmtheit sagen, dass man sehr gut ohne Freunde leben kann.

ohne Freunde - Mann sitzt alleine an einem Baumstamm

Ist es schädlich, wenn du keine soliden Freundschaften pflegst?

Wir wissen bereits, dass es möglich ist, ohne Freunde zu leben. Vielen Menschen fehlt aus dem einen oder anderen Grund eine derartige Bindung und sie akzeptieren, dass dies die Art ist, wie sie ihr Leben verbringen. Aber es stellt sich dennoch die Frage, ob dieser Zustand einen psychologischen Preis fordert.

Jeder Mensch ist anders, das ist richtig. Daher können für einige Menschen die Bindungen innerhalb ihrer Familie oder mit ihrem Partner ausreichend sein. Und es gibt sogar Menschen, die in ihrer Einsamkeit eine Erfüllung finden und denen es an nichts zu mangeln scheint.

Allerdings ist dies weder die Regel noch ist dieser Zustand empfehlenswert. Darüber hinaus solltest du auch folgenden Aspekt nicht außer Acht lassen: Selbstmorde werden in unserer individualistischen Gesellschaft, die von zerbrechlichen und oberflächlichen Beziehungen geprägt ist, immer häufiger. Ja, es stimmt, dass die Tatsache an sich, dass du ohne Freunde lebst, dich nicht umbringen wird. Aber es macht das Leben schwerer.

Menschen brauchen richtige Freundschaften. Menschen, denen sie vertrauen können und mit denen sie Situationen erleben, in denen sie sich gegenseitig emotional auffangen und bereichern. Freundschaften machen die menschliche Existenz erfüllter, sie verleihen dem Leben mehr Sinn und bieten eine Unterstützung, die einen sehr positiven Effekt auf die psychische Gesundheit hat.

Wenn dieser Faktor fehlt, entstehen häufig Gefühle von Leere und Verwundungen, in denen die Enttäuschung und Einsamkeit auf schmerzhafte Weise die Realität verzerren kann. Daher solltest du unbedingt sicherstellen, dass du dich nicht vollkommen vor Freundschaften verschließt. Suche nach Menschen, die deine Leidenschaften und Vorlieben teilen. Suche nach Menschen, mit denen du wachsen, lachen und eine schöne Zeit verbringen kannst. Die Vorteile von Freundschaften sind unbezahlbar.


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  • Demir, M., & Davidson, I. (2013). Toward a better understanding of the relationship between friendship and happiness: Perceived responses to capitalization attempts, feelings of mattering, and satisfaction of basic psychological needs in same-sex best friendships as predictors of happiness. Journal of Happiness Studies, 14(2), 525-550

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