Gewalt in der Kindheit hinterlässt Spuren im Gehirn
Psychologen, Neurologen und Psychiater gehen der Frage nach, inwieweit Gewalt in der Kindheit Spuren im Gehirn hinterlässt, die Betroffene auch im Erwachsenenalter beeinflussen. Manche Psychologen sind der Meinung, dass eine Therapie Daten aus anderen Disziplinen ignorieren sollte, die auf organische Ätiologien bestimmter Störungen hinweisen. Sie glauben, dass organische Aspekte für Psychologen in der Behandlung ihrer Patienten nicht relevant sind.
Doch es ist für Psychologen sehr wichtig, über möglichst viele Informationen zu verfügen. Wenn Studien zeigen, dass sich bei Gewaltopfern die motorischen Fähigkeiten verändern, kann diese Information sehr wertvoll sein, um bestimmte Verhaltensweisen zu verstehen.
Möglicherweise müssen für Menschen mit bestimmten organischen oder neurochemischen Veränderungen andere Wege gefunden werden, um ihnen ein autonomes Leben zu ermöglichen. Verschiedene Studien untermauern beispielsweise die Hypothese, dass Missbrauch und Misshandlung in der Kindheit die Gehirnentwicklung beeinflussen.
Studien über die Auswirkungen von Gewalt: Spuren in der DNA und im Gehirn
Verschiedene Studien haben die Auswirkungen von Kindesmissbrauch auf die DNA und das Gehirn der Opfer gezeigt. Ob es sich dabei um irreversible Spuren handelt, steht nicht fest, da dies nach der entsprechenden Intervention untersucht werden müsste.
Wir sehen uns einige der wichtigsten Forschungsarbeiten des letzten Jahrzehnts an, um dieses Thema genauer zu betrachten. In einer Studie aus dem Jahr 2019 werden alle bisher zu diesem Thema gesammelten Daten beleuchtet.
Gewalt in der Kindheit: Kanadische Untersuchung aus dem Jahr 2009
Im März 2009 veröffentlichte ein Team der McGill University in Montreal in der Zeitschrift Science et Vie einen Artikel über die genetischen Folgen von sexuellem Missbrauch in der Kindheit. Darin stellte das Forscherteam fest, dass sexueller Missbrauch in der Kindheit mit einem erhöhten Risiko für Depressionen im Erwachsenenalter verbunden ist.
Die Auswirkungen sind nicht nur psychologischer Natur, die Zerbrechlichkeit der betroffenen Person ist vielmehr genetisch, genauer gesagt epigenetisch verankert. Zu dieser Schlussfolgerung kam das Team der McGill University nach der Untersuchung der Gehirne von 24 Selbstmordopfern, von denen 12 in ihrer Kindheit sexuellen Missbrauch erlitten hatten.
Die Gewaltopfer zeigten einen Rückgang der Expression des NR3C1-Gens, das an der Stressreaktion beteiligt ist. Eine Anomalie, die die Anfälligkeit und erhöhte Neigung zum Selbstmord erklärt. Es war bereits bekannt, dass die Umwelt unsere Gene beeinflussen kann, doch diese überraschende Studie zeigt, dass ein Trauma auch unsere genetische Identität verändern kann, indem es die DNA direkt modifiziert.
Gewalt in der Kindheit: Studie aus dem Jahr 2012 in der Schweiz
Im Jahr 2012 konnte das Forscherteam von Professor Alain Malafosse an der Abteilung für Psychiatrie der medizinischen Fakultät der Universität Genf ebenfalls nachweisen, dass Missbrauch in der Kindheit Spuren in der DNA hinterlassen kann.
Die Studien ergaben, dass der durch Kindesmissbrauch verursachte Stress eine genetische Methylierung (epigenetische Modifikation) auf der Ebene des Promotors des Glucocorticoid-Rezeptor-Gens (NR3C1), das auf die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse wirkt, induziert.
Diese Achse ist am Prozess der Stressbewältigung beteiligt. Wenn Veränderungen auftreten, stören diese die Fähigkeit zum Umgang mit Stress im Erwachsenenalter und können zur Entwicklung von Psychopathologien wie der Borderline-Persönlichkeitsstörung führen.
Die Stressregulationsmechanismen des Gehirns können sich durch wiederholte Misshandlung in der Kindheit nachhaltig verändern. Das Trauma wird dann in allen Zellen zum Teil des Genoms der betroffenen Person.
Gewalt in der Kindheit: Untersuchung aus dem Jahr 2012 in Deutschland und Kanada
Im Jahr 2013 führte eine Gruppe von Wissenschaftlern unter der Leitung von Prof. Christine Heim, Direktorin des Instituts für Medizinische Psychologie am Universitätsklinikum Berlin, und Prof. Jens Pruessner, Direktor des Zentrums für Alternsforschung der Universität, eine Studie durch.
Die Forscher untersuchten 51 erwachsene Frauen, alle Opfer verschiedener Formen von Kindesmissbrauch, mithilfe der Magnetresonanztomographie (MRT). Dabei wurde unter anderem die Dicke der Großhirnrinde gemessen. Diese äußere Gehirnstruktur ist für die Verarbeitung aller Empfindungen zuständig.
Die Ergebnisse zeigten, dass eine Korrelation zwischen bestimmten Formen des Missbrauchs und einer dünneren Großhirnrinde besteht, wobei genau jene Gehirnregionen betroffen sind, die für an der Wahrnehmung und Verarbeitung der jeweiligen Misshandlungsform beteiligt sind.
Aktuelle Forschung zum Zusammenhang von Gewalt in der Kindheit und Drogenkonsum
Dr. Martin Teicher und Kollegen untersuchten 265 Erwachsene im Alter von 18 bis 25 Jahren und verwendeten dafür ebenfalls die Magnetresonanztomographie. Sie stützten sich auf die Antworten der Jugendlichen auf eine Reihe von Erhebungsinstrumenten wie den Impliziten Assoziationstest (IAT) und den CTQ-Fragebogen (Child Trauma Questionnaire) zum Thema Kindheitstrauma. Die Forscher stellten fest, dass 123 Probanden körperlichen, emotionalen oder sexuellen Missbrauch erfahren hatten.
Die Forscher verglichen die MRI-Scans der missbrauchten Teilnehmer mit denen der 142 Teilnehmer, die nicht missbraucht worden waren.
Die Analyse zeigte, dass Missbrauch mit Veränderungen in der kortikalen Netzwerkarchitektur einhergeht. Vor allem im linken anterioren Cingulum (verantwortlich für die Emotions- und Impulsregulation), der rechten anterioren Insula (subjektive Wahrnehmung von Emotionen) und dem rechten Precuneus (egozentrisches Denken).
Die erhöhte Aktivierung der vorderen Insula deutet außerdem darauf hin, dass die betroffene Person ein etwas irrationales und unkontrollierbares Verlangen empfindet, Drogen zu nehmen, ohne über die Konsequenzen nachzudenken.
Weitere Auswirkungen
Gewalt in der Kindheit beeinflusst auch das Gedächtnis, die Aufmerksamkeit und die Fähigkeit, sich selbst zu erkennen. Da die Region des medialen frontalen Gyrus betroffen ist, können Menschen, die Gewalt erfahren oder miterlebt haben, folgende Beeinträchtigungen experimentieren:
- Kleine Gedächtnisverluste in bestimmten Lebensabschnitten
- Verwechslungen von Gedanken, Absichten oder Überzeugungen
- Kognitive Beeinträchtigungen und Wahrnehmungsstörungen, die dazu führen, dass sie zu emotionaler Übertreibung tendieren
- Kleine Schwächen in der motorischen Koordination und Sinneswahrnehmung, die sie ungeschickt oder tollpatschig wirken lassen
Gehirnbereiche, die an der Überwachung des internen Bewusstseins über Emotionen beteiligt sind, werden zu stark vernetzten Aktivitätsknotenpunkten und können einen größeren Einfluss auf das Verhalten ausüben. Gleichzeitig verlieren Areale, die Impulse steuern, neuronale Verbindungen und werden in Folge in eine weniger zentrale Rolle verdrängt.
Diese Veränderungen können die Voraussetzungen für ein erhöhtes Risiko für Drogenkonsum und andere psychische Störungen schaffen.