Dissoziation nach traumatischen Erfahrungen
Die Dissoziation wirft viele Fragen und einige Missverständnisse auf. Es handelt sich nicht um Schwäche oder eine pathologische Störung, sondern um eine adaptive psychologische Reaktion, um traumatische Erfahrungen besser zu bewältigen.
Die Dissoziation ermöglicht eine Abspaltung von Gefühlen, Gedanken und Körperempfindungen, die emotionalen Schmerz verursachen. Diese ausgeklügelte Überlebensstrategie hat jedoch einen hohen psychologischen Preis: Das Gedächtnis und die Selbstwahrnehmung werden zum Teil stark beeinträchtigt. Erfahre in diesem Artikel Wissenswertes über diese komplexe psychische Realität.
Die frühzeitige Erkennung einer dissoziativen Störung verhindert schwerwiegende Verhaltensmuster wie Selbstverletzung oder Suizidversuche.
Dissoziation als Bewältigungsmechanismus
Dieser neuropsychologische Abwehrmechanismus führt zu einer Abkopplung von Gedächtnisinhalten, Gedankengängen und körperlichen Empfindungen, um sich von der schmerzlichen Erfahrung loszulösen. Die Erinnerungen werden dadurch schwächer, doch das Trauma damit nicht bewältigt.
Eine Studie der University of Maryland weist darauf hin, dass die Auswirkungen der Dissoziation noch immer vernachlässigt werden. Wir benötigen ein größeres Bewusstsein für dissoziative Prozesse, denn sie korrelieren signifikant mit selbstzerstörerischem und suizidalem Verhalten. Diese Reaktion soll vor emotionalem Leid schützen, doch langfristig ist sie schädlich und verursacht ernste Folgen.
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Die Symptome einer Dissoziation
Bei einer Dissoziation werden verschiedene neurologische Bereiche aktiv, um schmerzliche Erinnerungen und Leid zu regulieren. Die Amygdala stimuliert die Produktion von Cortisol (Stresshormon) und Areale wie der präfrontale Kortex funktionieren nicht mehr auf normale Weise. Auch der Hippocampus, das Zentrum unseres emotionalen Gedächtnisses, wird dysreguliert. Dies führt zu emotionaler Gefühllosigkeit, Gedächtnislücken und einer verminderten Denkfähigkeit.
Die Universität Leiden in den Niederlanden weist darauf hin, dass dieser Mechanismus ein sehr komplexer Prozess ist, der bei Erkrankungen wie der posttraumatischen Belastungsstörung, der dissoziativen Identitätsstörung und der Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPD) auftritt. Dabei kommt es zu folgenden Symptomen:
- Ängste
- Suizidgedanken
- Abkopplung von Gefühlen
- Zweifel an der eigenen Identität
- Schlafstörungen, wie z. B. Albträume
- Anhedonie oder die Unfähigkeit, Freude zu empfinden
- Selbstzerstörerische Verhaltensweisen wie Selbstverletzungen
- Gedächtnislücken
- Abkopplung von sich selbst und der Umgebung
- Bewegungsstörungen, mangelnde Kontrolle über den Körper
- Flashbacks, die an die traumatischen Erfahrungen erinnern
- Das Gefühl, dass viele Reize und Erfahrungen nicht real sind.
Diese Art der Dissoziation fällt in ein Spektrum: Manche Menschen erleben nur leichte Störungen, während andere eine stark dysfunktionalea und schmerzhaftes Lebens führen.
Arten der Dissoziation nach traumatischen Erfahrungen
Das Diagnostische und Statistische Handbuch Psychischer Störungen (DSM-V) differenziert folgende drei Arten dissoziativer Störungen:
- Dissoziative Amnesie: Nach einem oder mehreren traumatischen Erlebnissen entwickelt die Person Erinnerungslücken und vergisst bestimmte Fragmente, die vor oder nach dem traumatischen Erlebnis passierten.
- Depersonalisations-/Derealisationsstörung: Betroffene haben das Gefühl, sich außerhalb des eigenen Körpers zu befinden. Sie nehmen ihre Umgebung nicht als real wahr.
- Dissoziative Identitätsstörung: Früher sprach man von einer “multiplen Persönlichkeitsstörung”. Die Patienten wechseln zwei oder mehrere Identitäten in einer Person ab. Die Zeitschrift The Journal of Mental Science erklärt, dass es sich bei dieser Erkrankung um eine schwere Form der posttraumatischen Belastungsstörung handelt, die sich nur schwer diagnostizieren und behandeln lässt.
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Ursachen für eine traumatische Dissoziation
Die Dissoziation tritt oft nach der Überlagerung mehrerer traumatischer Ereignisse auf. Menschen, die bereits belastende Erfahrungen hinter sich haben sind deshalb gefährdeter, wie auch eine Studie der Universität von Turin (Italien) berichtet. Häufige Traumata, die dazu führen sind folgende:
- Traumata durch Kriegsszenarien
- Aufwachsen in dysfunktionalen Familien
- Misshandlung/Missbrauch über mehrere Jahre hinweg
- Leben in benachteiligten oder ungünstigen sozialen Verhältnissen
- Zeuge von Gewalt über einen langen Zeitraum
- Jahrelang in bedrohlichen und sehr stressigen Umgebungen arbeiten
Die Dissoziation kann Betroffenen das Gefühl geben, verrückt zu werden und die Kontrolle zu verlieren.
Die Behandlung einer Dissoziation
Die Intervention hängt von den individuellen Bedürfnissen und Symptomen jedes Patienten ab. Nach der Diagnose, bei der auch mögliche Komorbiditäten und prädisponierende traumatische Faktoren untersucht werden, kommen unter anderem folgende therapeutische Strategien zum Einsatz:
Grundlegende Schritte für den Umgang mit einer traumatischer Dissoziation
- Förderung eines gesunden Selbstkonzepts
- Veränderung schädlicher Denkmuster
- Entwicklung gesunder Bewältigungsfähigkeiten
- Förderung der Fähigkeit zur körperlichen und emotionalen Selbstregulierung
- Verringerung der ständigen Überaktivierung des zentralen Nervensystems
- Ermutigung zu neuen Lebenszielen
- Verbindung mit den körperlichen Empfindungen, um mit emotionalem Schmerz besser umzugehen
- Hilfestellung bei der Bewältigung des mit der Dissoziation verbundenen emotionalen Schmerzes und der schrittweisen Integration der eigenen Identität.
- Das Ziel ist, die allmähliche Verarbeitung der traumatischen Erfahrung durch die Person zu erleichtern.
- Es geht vorwiegend darum, Emotionen und dysfunktionale Gedanken zu regulieren und gesündere Verhaltensweisen zu entwickeln.
Effektive Therapien
Bei Dissoziation nach traumatischen Erfahrungen kommt häufig EMDR (Eye Movement Desensitisation and Reprocessing Therapy) zum Einsatz. Die Zeitschrift The Permanente Journal stellt fest, dass diese Therapie zu den wirksamsten Behandlungen von traumatischen Prozessen zählt. Andere effektive Therapiemodelle sind:
- Kognitive Verarbeitungstherapie (CPT): Diese Therapieform eignet sich unter anderem bei Fällen von sexuellem Missbrauch und Misshandlung.
- Psychopharmaka: Medikamente kommen häufig in Kombination mit einer Psychotherapie zum Einsatz.
- Traumafokussierte kognitive Verhaltenstherapie: Techniken wie die kognitive Umstrukturierung, Emotionsregulierung und Exposition gegenüber aversiven Reizen können Patienten helfen, schmerzhafte Erfahrungen integrieren.
- Somatische Therapien: Die Dissoziation hinterlässt auch körperliche Spuren. Diese Therapieform hilft, somatische Empfindungen und Beschwerden zu lindern.
Fazit
Die Dissoziation ist ein nützlicher Mechanismus, der jedoch auf lange Sicht die Lebensqualität stark einschränken kann. Betroffene benötigen psychologische Unterstützung, um die traumatischen Erfahrungen verarbeiten und integrieren zu können.
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