Digitaler Narzissmus: das unerbittliche Streben nach dem eigenen Ich
Soziale Netzwerke bieten all jenen die beste Bühne, die es lieben, sich zur Schau zu stellen: Sie haben hier die Möglichkeit, ihre Fähigkeiten, ihre Gedanken oder Gemütsstimmung und auch persönliche Details zu präsentieren. Das digitale Zeitalter ist ein Netz, in dem das Ich die Hauptrolle spielt. Deshalb sprechen wir heute über ein sehr aktuelles Thema: digitaler Narzissmus.
Wir leben in einer Zeit des Egozentrismus, der sich in digitalen Medien besonders deutlich sichtbar macht. Ein Beweis dafür sind Selfies, Reisefotos oder andere Details aus dem täglichen Leben, deren “Wert” an Likes, Followern und Kommentaren zu erkennen ist.
Es ist die Magie der Interaktion: ein kleines Hochgefühl, das für ein gewisses Wohlbefinden sorgt, wenn auch nur für ein paar Sekunden. Wäre Narziss, die Figur aus der griechischen Mythologie, noch am Leben, würde er seine sozialen Netzwerke mit Selfies überschwemmen, um seine Schönheit und Perfektion zu zeigen.
Die Informationstechnologie beeinflusst uns sowohl gesellschaftlich als auch individuell. Eine der Folgen ist digitaler Narzissmus.
“Wer nur für sich selbst lebt, ist für andere tot.”
Publius Sirius
Soziale Netzwerke: maskierte Hauptdarsteller
Wir alle hören gelegentlich gerne schöne Worte und Lob. Positive Kommentare sind motivierend und sorgen für eine fröhliche Haltung. Komplimente können jedoch zum Problem werden, wenn sie in eine Abhängigkeit führen. In sozialen Netzwerken besteht diese Gefahr, denn viele sind von den Likes, Followern und Rückmeldungen abhängig und werden schließlich zu Sklaven ihrer Anhänger.
Manche posten alles zu jeder Zeit, auch intime Augenblicke werden zur Show. Sie glauben, nur dann zu existieren, wenn sie von anderen gesehen und anerkannt werden. Der Fachbegriff für intime Informationen, die öffentlich gemacht werden, lautet Extimität. Er wurde von dem französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan geprägt.
Die Spontaneität bleibt mit der Zeit oft auf der Strecke. Um den nächsten Applaus auf der Bühne der sozialen Netzwerke zu ernten, wird schließlich alles gut geplant. Was kurzfristig eine intensive Befriedigung verschafft, wird zu einer Abhängigkeit. Die Natürlichkeit geht im digitalen Universum meist durch verschärften Narzissmus verloren. Das Streben nach Aufmerksamkeit steht im Vordergrund.
“Versuche nicht, dich aufzuspielen! Der weise Mensch, der sein höheres Wesen erkannt hat, gibt sich nicht dem Narzissmus oder der Selbstverherrlichung hin.”
Tao Te Ching
Digitaler Narzissmus und seine Folgen
Neben einer extremen Egozentrik, die an eine Pathologie grenzt, hat digitaler Narzissmus ein idealisiertes Selbstbild und ein instabiles Selbstwertgefühl zur Folge. Unsicherheit kennzeichnet dieses Personen ebenfalls.
Hinter dem Avatar, den sie für sich selbst konstruieren, um in der Öffentlichkeit zu zeigen, versteckt sich eine Person, die Angst hat, nicht bewundert oder anerkannt zu werden. Sie hat Angst vor der Einsamkeit oder Unsichtbarkeit. Schließlich werden auch die Mitmenschen unsichtbar, da nur noch eine instrumentelle Beziehung besteht.
Zwar ist die Verfügbarkeit in der Online-Welt praktisch konstant, doch der Kontakt mit anderen ist oberflächlich und verfolgt nur ein Ziel: das eigene Ego zu nähren. Es gibt also keine wirkliche Bindung, sondern nur Maßnahmen, um die eigenen Ängste zu bekämpfen, im Austausch für ein falsches Gefühl der Verbundenheit, obwohl Betroffene die meiste Zeit allein sind.
Digitaler Narzissmus basiert auf einer Scheinwelt, in der die Grandiosität nach außen getragen ist, anstatt Innenschau zu halten und das Gefühl der existenziellen Leere zu erkennen. In der Regel ist dieses Verhalten selbstbetrügerisch: Narzissten glauben, dass sie reif, flexibel und verantwortungsbewusst sind. Sie denken auch, ein stabiles Selbstwertgefühl zu haben.
“Findest du es nicht seltsam, wenn jemand überall Bilder von sich selbst aufhängt? Es ist, als wollten sie beweisen, dass es sie gibt.”
Candace Bushnell
Trenne dich, um dich zu verbinden
Digitaler Narzissmus macht abhängig, es ist nicht einfach, davon loszukommen. Du brauchst Zeit zum Nachdenken, du musst verstehen, dass du nur ein Avatar deiner selbst, ein Sklave deiner Likes bist.
Beginne damit, über den Zweck deiner Posts nachzudenken: Was erwartest du davon? Was bringen dir deine Posts? Du musst auch akzeptieren, dass das Bild, das du nach außen projizierst, nicht real ist. Dein Leben ist viel reichhaltiger, in den sozialen Netzwerken zeigst du nur den von dir gewünschten Ausschnitt.
Meist kommt es nach einer Zeit zu Enttäuschung und Frustration, da die Diskrepanz zwischen den Erwartungen und der Realität zu groß ist. Außerdem wirst du dir bewusst, dass die Freude der realen Existenz einem fiktiven Charakter in einer irrealen Welt gewichen ist.
Der Schlüssel liegt also daran, dich von dem digitalen Universum zu lösen und in das reale Leben einzutauchen. Schaffe dir Raum für sichere Bindungen, in denen deine Mitmenschen keine Instrumente der momentanen Befriedigung sind. Baue wahre Beziehung auf, die dein Selbstwertgefühl und dein Vertrauen stärken.
Das bedeutet nicht, dass du keine soziale Netzwerke nutzen kannst. Du solltest jedoch lernen, verantwortlich damit umzugehen, um nicht zum Sklaven der digitalen Welt zu werden. Zeige dich so, wie du bist und konzentriere dich auf reale Erfahrungen, die dir wahre Genugtuung verschaffen.
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- Miller, Jacques-Alain. “Extimidad”. Ed. Paidós; BsAs, 1a. ed. 2010.
- Rosenfeld H. On the psychopathology of narcissism: A clinical approach. Int J Psychoanal. 1964;45:332-7.