Die Unterschiede im Suchtverhalten von Frauen und Männern

Die Geschlechterperspektive hat in den letzten Jahren heiße Debatten ausgelöst. Wir analysieren heute, warum geschlechterspezifische Interventionen nötig sind und konzentrieren uns dabei konkret auf weibliche Suchterkrankungen.
Die Unterschiede im Suchtverhalten von Frauen und Männern
Michael Schaller

Geprüft und freigegeben von Psychologe Michael Schaller.

Geschrieben von Redaktionsteam

Letzte Aktualisierung: 18. September 2022

Frauen und Männer zeigen unterschiedliches Suchtverhalten, deshalb ist ein geschlechterspezifischer Ansatz in der medizinischen und psychologischen Intervention grundlegend. Um die Rolle des Geschlechts im medizinischen Bereich zu veranschaulichen, beginnen wir mit ein paar Beispielen, die deutlich machen, dass dieser Aspekt noch immer viel zu sehr vernachlässigt wird.

Frauen sind zum Beispiel eher bereit, Organe zu spenden, da ihre helfende und pflegende Rolle in unserer Gesellschaft noch immer tief verankert ist. Frauenorgane werden jedoch von Männern eher abgestoßen, da sie weniger Masse haben. Bei Frauen ist die Gefahr der Abstoßung einer männlichen Spenderniere größer, doch sie stoßen auch weibliche Nieren eher ab und erhalten seltener Dialyse oder Transplantationen. In diesem Zusammenhang ist nicht zu vergessen, dass die Medikamente zur Unterdrückung der Immunreaktion auf fremde Organe nach dem Gewicht des Patienten dosiert werden, ohne das Geschlecht des Patienten und des Organspenders zu berücksichtigen. Eine geschlechterspezifische Intervention könnte in diesem Bereich die Erfolgschance bei Frauen erhöhen.

Ruiz und Verdú (2004) stellen fest, dass in derselben Stichprobe von Männern und Frauen mit ähnlichen Diagnosen mehr männliche Einweisungen vorgenommen werden, was die Frage aufwirft, ob bei beiden Geschlechtern die gleichen Anstrengungen unternommen werden.

Lee et al. (2008) untersuchten, warum mehr Frauen an Koronar- und Herz-Kreislaufproblemen sterben. Sie stellten fest, dass eine lebensrettende Herz-Katheterisierung bei Männern häufiger vorgenommen wird. Warum? Die Ärzte schätzten das Risiko beider Bevölkerungsgruppen falsch ein.

Auch psychologische Behandlungen wurden aus der männlichen Perspektive entwickelt. Das Representation Project spricht darüber, dass in psychologischen Interventionen unabhängig vom Geschlecht automatisch die männliche Tradition zur Anwendung kommt, obwohl die Erfahrungen sehr stark variieren und ein geschlechterspezifischer Ansatz nötig wäre.

Die Unterschiede im Suchtverhalten von Frauen und Männern
In der psychologischen Behandlung von Frauen mit Suchtproblemen kommt oft die männliche Tradition zur Anwendung.

Die Unterschiede im Suchtverhalten von Frauen und Männern

Bei der süchtigen Frau beginnt der Sexismus bereits bei der Diagnose. Bei Alkohol- oder Drogensucht denken wir sofort an Männer. Es ist zwar richtig, dass Männer besonders stark für Suchtverhalten gefährdet sind, doch Stereotype führen dazu, dass Suchtprobleme bei Frauen oft lange Zeit unbemerkt bleiben. Beim weiblichen Geschlecht kommt es im Fall von Alkoholismus oder anderen Süchten deshalb häufig zur Unterdiagnose.

Dazu kommt, dass die Interventionen zur Entziehung für die ältere, männliche Bevölkerung konzipiert wurden. Babcock und Connor (1981) erwähnen, dass die Behandlungen nicht auf spezifische geschlechtsbedingte Unterschiede eingehen. Die Bedürfnisse der Frauen werden denen der Männer untergeordnet. 

Wir dürfen nicht vergessen, dass viele Frauen eine Abhängigkeit von legalen Suchtmitteln entwickeln (Nelson, Kauffman und Morrison, 1995): Beruhigungsmittel, psychoaktive Drogen oder Aufputschmittel. Wir können darin eine logische Folge der Diagnose psychischer Krankheiten beobachten, die bei Frauen häufiger als bei Männern erfolgt. Sie erhalten deshalb auch öfter entsprechende Medikamente.

Wie kommt es zum Suchtverhalten bei Frauen?

Auch bei den Gründen, die zu einer Sucht führen, sind geschlechterbedingte Unterschiede zu erkennen. Nelson et al. (1995) stellen fest, dass mindestens 75 % der weiblichen Süchtigen, welche die Forscher in ihre Studie aufgenommen haben, über sexuellen oder körperlichen Missbrauch berichteten. Tatsächlich besteht in vielen Fällen ein Zusammenhang mit einer unbehandelten posttraumatischen Belastungsstörung. Dabei spielen noch immer Schuldzuweisungen (“Hättest du nicht provoziert”) eine bedeutende Rolle.

Gil Rivas, Fiorentine und Anglin (1995) stellen außerdem fest, dass sexueller Missbrauch bei Frauen nicht nur vermehrt zu Suchtverhalten führt, sondern auch Probleme mit dem Selbstwertgefühl, Depressionen, Angstzustände und Selbstmordgedanken verursacht. Diese Diagnosen sind bei Frauen deutlich häufiger als bei Männern.

Das Stigma der guten Frau

Noch immer erwarten sich viele von einer Frau umsichtiges, fürsorgliches, gewissenhaftes und wachsames Verhalten. Eine süchtige Frau entfernt sich besonders stark von dieser Vorstellung, was als egoistisch eingestuft wird. Außerdem “kann eine süchtige Frau nicht weiblich sein” (Gunn und Canada, 2015) und erfährt deshalb gleichzeitig den Verlust der Weiblichkeit.

Das Suchtverhalten wird vielfach mit Promiskuität assoziiert: Süchtige Frauen sehen sich gezwungen, Sex gegen Drogen zu tauschen. Damit werden Frauen nicht mehr als Opfer, sondern als Täterinnen betrachtet, denn sie entfernen sich immer mehr von der gesellschaftlichen Wahrnehmung einer “guten Frau”. Dazu kommt, dass die sexuelle Viktimisierung nicht mit auf Männer zugeschnittenen Interventionen behandelt werden kann.

Frau mit Alkoholproblemen zeigt spezifisches Suchtverhalten
Die geschlechterspezifischen Unterschiede zeigen sich nicht nur in den Ursachen, die einer Sucht zugrunde liegen, sondern auch in der Intervention.

Das Stigma der guten Mutter

Genauso wie es zu den Pflichten einer Frau gehört, “gut und fürsorglich” zu sein, erwartet sich die Gesellschaft, dass die Frau eine “gute Mutter” ist, die der Familie als moralischer Kompass dient. Alles, was nicht mit dem Wohlergehen der Familie zu tun hat, kann als egoistisch gedeutet werden. “Die Mutter entscheidet sich für die Sucht, für eine Depression und vernachlässigt ihre Kinder.”

Nicht nur Mütter mit Suchtproblemen, sondern auch Mütter mit psychischen Problemen, die um Hilfe bitten, sind egoistisch. Die Mutter, die ihre eigene Sucht erkennt und behandelt, die Mutter, die depressive Symptome hat, die Mutter, die Medikamente gegen ihre Ängste nimmt, ist automatisch eine egoistische Mutter, weil sie unvollkommen ist. Mütter in Entzugsprogrammen wurden von 60 % als unehrlich und von 40 % als schlechte Mütter angesehen (Gunn und Canada, 2015).

Die Geschlechterperspektive in der Intervention

Schließlich scheint sich ein geschlechtsspezifischer Ansatz bei medizinischen und psychologischen Interventionen abzuzeichnen. Die psychologischen Bedürfnisse von Frauen und Männern sind unterschiedlich – genauso wie die Erfahrungen und emotionalen Beziehungen, wobei Männer auf andere Weise stigmatisiert werden als Frauen. Deshalb ist auch bei der Behandlung eine Differenzierung nötig, um die Erfolgschancen zu erhöhen.


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  • Alana J. Gunn & Kelli E. Canada (2015) Intra-group stigma: Examining peer relationships among women in recovery for addictions, Drugs: Education, Prevention and Policy, 22:3, 281-292, DOI: 10.3109/09687637.2015.1021241
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