Die Spiegeltheorie: Wunden, die Beziehungen formen und zerstören

Nach der Spiegeltheorie reflektieren oder projizieren wir Aspekte unserer Persönlichkeit, die wir mögen oder nicht mögen, auf andere. Schauen wir uns das im Detail an.
Die Spiegeltheorie: Wunden, die Beziehungen formen und zerstören
Gema Sánchez Cuevas

Geschrieben und geprüft von der Psychologe Gema Sánchez Cuevas.

Letzte Aktualisierung: 10. August 2024

Hast du dich schon einmal gefragt, was eigentlich passiert, wenn du dich mit einem anderen Menschen verbindest und nach einiger Zeit Charakterzüge entdeckst, die dir missfallen? Die Spiegeltheorie von Jacques Lacan hilft uns, diesen Prozess zu verstehen. Laut diesem Autor würden wir unsere persönliche Identität so erschaffen, wie wir uns selbst in anderen wahrnehmen. Somit seien unsere Beziehungen zu anderen das Spiegelbild oder Projektionen von Aspekten unserer Persönlichkeit, die wir mögen oder nicht mögen.

Was ist die Spiegeltheorie?

So wie es Stellen an unserem Körper und unserem Erscheinungsbild gibt, die uns missfallen, wenn wir uns im Spiegel betrachten, gibt es auch Aspekte unserer Persönlichkeit, die wir nicht akzeptieren. Diese Aspekte werden von unserem Unterbewusstsein unterdrückt. Wir sehen allerdings in unseren Mitmenschen reflektiert, womit wir anecken. Das heißt, dass wir auf eine bestimmte Weise einige der Charakterzüge, die uns an anderen missfallen, mitunter in uns selbst wiedererkennen, wenn auch auf symbolische Weise. Was uns an anderen nicht gefällt, gefällt uns womöglich auch an uns selbst nicht.

Wir projizieren also ständig einen Teil von uns. Die Spiegeltheorie lädt uns demnach dazu ein, unsere Einstellung zu ändern, dahingehend, dass wir uns nicht vor anderen schützen müssen, sondern fragen sollten: „Aus welchem Grund erlebe ich diese Situation mit diesem Menschen und was habe ich an mir, das ich an ihr nicht ertrage?“  Da wir im Allgemeinen nicht dazu in der Lage sind, unsere eigenen Schatten und sogar Tugenden zu sehen, macht uns das Leben des Geschenk der Beziehungen, die wir erleben, um uns auf indirekte Weise das zu zeigen, was in uns ist. Der andere in der Beziehung dient uns einfach als Spiegel, wir spiegeln uns wider und bekommen dadurch die Möglichkeit, uns selbst zu erkennen.

Zwei Engel aus Wurzeln nähern sich an

Direkter oder umgekehrter Spiegel

Die Spiegeltheorie kennt eine direkte und eine umgekehrte Projektion. Hier ein Beispiel: Stellen wir uns einmal vor, dass du den Egoismus deines Partners oder Freundes nicht aushältst. Auf direkte Weise kann es sein, dass du diesen Teil von dir, der egoistisch ist und den du von dir weist, projiziert. Falls du auf umgekehrte Weise vorgehst, könnte dir diese Person zeigen, wie wenig Wert du deinen Interessen zuschreibst. Vielleicht bist du von anderen abhängig und gibst anderen mehr Priorität als dir. Auf die eine oder andere Weise bekommen wir also sehr wertvolle Informationen für unsere Selbstkenntnis und Entwicklung.

Was mir an dir nicht gefällt, das korrigiere ich an mir.

Vielleicht denkst du, dass dein Chef zu viel von dir fordere. Vielleicht bist du aber auch sehr fordernd und perfektionistisch, was deine eigene Person anbelangt, und dein Vorgesetzter ist nichts weiter als ein Spiegelbild dieses fordernden Verhaltens, das du dir selbst auferlegst. Andererseits kann es auch sein, dass du zu tolerant bist und deinem Leben etwas Strenge verleihen musst. Und wir wissen ja, dass die Tugend im Gleichgewicht liegt.

Emotionale Wunden

Mit einem Pflaster heilen wir keine Wunde. Wenn wir uns verletzen, drücken wir zuerst unseren Schmerz aus, und wenn wir uns beruhigt haben, reinigen wir die Wunde und heilen sie mit den entsprechenden Hilfsmitteln. Wir decken sie nicht ab und wir vergessen sie auch nicht, weil wir wissen, dass sie so nicht heilen wird. Und darüber hinaus geben wir eine Zeit lang acht auf die Wunde, bis sie dann irgendwann verheilt ist. Das Gleiche passiert auch mit anderen Arten von Wunden.

Wir alle haben emotionale Wunden. Emotionale Wunden sind all diese Emotionen, Gefühle, Gedanken und Handlungsweisen, die in uns sowie in verschiedenen schmerzlichen Momenten unseres Lebens entstanden sind und die wir noch nicht überwunden und akzeptiert haben. Wir sind zu Gefangenen unserer Emotionen geworden und halten uns selbst in diesem fiktiven Gefängnis gefangen. Wir fühlen uns wieder wohl, wenn wir diese Gefühle umgewandelt und aus diesen Denkweisen Weisheit und Erfahrungen gemacht haben, sodass sie uns als Impuls dienen, um uns selbst zu heilen.

Traurige Frau in blau gemalt

Wunden als Spiegelbild

Sobald wir unsere Wunden vergessen, werden sie zu einem Teil unseres Unterbewusstseins und nehmen Einfluss auf unsere Gedanken, Stimmungen und Verhaltensweisen. In unserem Inneren macht sich langsam ein Gefühl der fehlenden Liebe breit, die in unserer frühsten Kindheit entstanden ist, sich aber jetzt bemerkbar macht und/oder noch stärker zum Vorschein kommt, wenn wir sie nicht heilen.

So kommt es, dass wir in unserem Partner oftmals Leeren finden, die den unseren sehr ähneln. Und genau das führt zu unserer Vereinigung. Zwei Menschen, die wegen der Liebe sehr gelitten haben, treffen beispielsweise aufeinander und entdecken, dass Liebe nicht Leid bedeutet. Dieses Paar hat die gleiche Wunde verbunden. Beide sind das Spiegelbild des anderen. Aber hier müssen wir vorsichtig sein, denn Wunden, die vereinen, können auch trennen.

Wenn beide Partner ihre Wunden nicht heilen, werden diese die Beziehung eines Tages zerstören. Unsicherheiten, Ängste, Eifersucht oder besitzergreifendes Verhalten kommen dann zum Vorschein. Es ist so, als würde das Leben versuchen, uns einen Spiegel vorzuhalten, der uns den Weg aufzeigt, den wir gehen müssen, um zu wachsen. Wenn wir diese Widerspiegelungen nicht analysieren und die uns dadurch aufgezeigten Informationen missachten, werden wir uns nicht weiterentwickeln bzw. langsamer reifen und unsere Beziehungen werden zerbrechlicher sein. Aus diesem Grund können uns unsere Beziehungen zu anderen – in Anlehnung an die Spiegeltheorie – sehr nützliche Informationen über uns selbst und den Zustand dieser Wunden, die wir noch nicht zu einem Teil unserer Geschichte haben werden lassen, liefern.


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