Die narrative Identität nach Paul Ricoeur

Paul Ricoeur zählt zu den bedeutendsten französischen Denkern der Nachkriegszeit. Er betrachtete die Identität als das Ergebnis einer komplexen und dynamischen Erzählung. Erfahre heute Interessantes über diese Theorie.
Die narrative Identität nach Paul Ricoeur
Sara González Juárez

Geschrieben und geprüft von der Psychologin Sara González Juárez.

Letzte Aktualisierung: 03. August 2023

Die Definition der Identität, ihre Suche und Konstruktion zählt in der Philosophie und Psychologie zu den am häufigsten wiederkehrenden Themen. Die narrative Identität nach Paul Ricoeur markiert einen Unterschied, denn der französische Philosoph betont die Konstruktion einer Erzählung als Bedingung für die Identität. Wir stellen diesen Philosophen nachfolgend kurz vor und analysieren die wichtigsten Aspekte seiner Theorie¹.

Paul Ricoeur

Der französische Philosoph Paul Ricoeur kam 1913 in Valence zur Welt. Er ließ sich in seinem Schaffen von bedeutenden Meistern wie Edmund Husserl, Karl Jaspers, Martin Heidegger und Sigmund Freud beeinflussen. Ricoeur beschäftigte sich aus phänomenologischer und psychoanalytischer Sicht mit den Grundbegriffen der Geschichtswissenschaft.

Schließlich wandte er sich der Hermeneutik zu und interessierte sich für den Strukturalismus sowie die politische Ethik. In seinem Werk Das Selbst als ein Anderer² schreibt der Philosoph über die Identitätskonstruktion: Er denkt darin über die persönliche Identität als Fähigkeit des Einzelnen nach und darüber, wie eine Erzählung der Existenz Sinn gibt. Für Ricoeur ist das Wesen einer Person nicht vorherbestimmt, vielmehr wird es konstruiert und ist fließend.

Ricoeur betonte die Rolle der Introspektion und Reflexion bei der Konstruktion der persönlichen Identität.

Paul Ricoeur erhielt im Laufe seiner Karriere verschiedene Auszeichnungen, unter anderem den Balzan-Preis für Philosophie (1999), den Kyoto-Preis (2000) und den Kluge-Preis (2004) gemeinsam mit Jaroslav Pelikan. Er widmete sein Leben dem Studium der menschlichen Transzendenz, sein Vermächtnis beeinflusst uns noch heute.

Die narrative Identität

Die Idee dieses Konzepts basiert auf der Tatsache, dass die Identität auf die gleiche Weise konstruiert wird, wie ein Individuum eine Geschichte erzählt. Unsere Erzählfähigkeit hilft uns, unsere Identität zu konstruieren und zum Hauptdarsteller unserer eigenen Geschichte zu werden.

Eine Übersicht über die Theorie von Ricoeur erklärt, dass die narrative Identität durch das Erzählen von zeitlichen Erfahrungen geprägt wird, wobei eine Verbindung zwischen den Ereignissen, der Beständigkeit in der Zeit und den Qualitäten der Geschichte als Ausdruck der Erfahrung selbst besteht.

Die Handlung beinhaltet die Auswahl und Organisation von Erfahrungen zu einer kohärenten und sinnvollen Erzählung. Auf diese Weise wird ein Gefühl der Kontinuität geschaffen und Selbsterkenntnis entwickelt. Das Subjekt spielt also eine aktive und dynamische Rolle bei der Konstruktion seiner Identität.

Das Schaffen der narrativen Identität beinhaltet auch die Interaktion mit anderen. Hier kommen die gemeinsamen Erfahrungen ins Spiel, die die Geschichten anderer Menschen mit den eigenen verknüpfen. Eine solche Identität wird also durch den Diskurs anderer beeinflusst.

Unsere Identitäten sind durch Erzählungen miteinander verwoben.

Wenn wir Lebenserfahrungen sammeln und ihre Erzählungen in unsere Identität einfließen, verändern sich viele Aspekte unserer Persönlichkeit. Die narrative Identität lädt uns dazu ein, über unsere eigene Geschichte nachzudenken, um sie neu zu interpretieren und uns weiterzuentwickeln.

Persönliche Identität

Zusätzlich zu Ricoeurs narrativer Identität gibt es das Konzept der persönlichen Identität. Diese besteht aus der kontinuierlichen und kohärenten Wahrnehmung, die jeder Mensch von sich selbst hat.

Obwohl diese Identität durch die Erzählung und Integration neuer (persönlicher und gemeinsamer) Erfahrungen konstruiert wird, unterscheidet sie sich dadurch, dass sie sich auf den einzigartigen Teil bezieht, der jedes Individuum auszeichnet. Mit anderen Worten: Die persönliche Identität ist der stabile und dauerhafte Aspekt der Persönlichkeit.

Wenn man über den sich verändernden oder statischen Charakter spricht, könnte man meinen, dass es sich um gegensätzliche Konzepte handelt, in Wahrheit sind sie jedoch komplementär.

Die persönliche Identität bildet die Säulen, auf denen wir unsere Geschichte bauen. Sie bedeutet Kontinuität im Laufe der Zeit und ein Gefühl der persönlichen Stabilität, denn das Gefühl, dass sich unsere Identität mit jeder neuen Erfahrung verändert (anstatt sie in einen kohärenten Diskurs zu integrieren), wäre für die psychische Gesundheit problematisch.

Die narrative Identität hingegen ist der Motor, der die Person antreibt. Sie ist ein dynamischer Prozess, der es ermöglicht, neue “Episoden” des eigenen Lebens in einen kohärenten Diskurs zu integrieren. Sie ermöglicht persönliches Wachstum und hilft uns, uns zukünftigen Herausforderungen zu stellen.

Die narrative Identität umfasst auch den ethischen Aspekt der Persönlichkeit, da durch sie die eigene Geschichte im Licht neuer Ereignisse neu interpretiert wird.

Eine Theorie zum Nachdenken

Letztlich ist es die Kombination aus Konstanz und Dynamik, die Paul Ricoeurs Theorie sowohl vielfältig als auch integrativ gestaltet. Während sie die Kontinuität der Identität respektiert, verleiht sie dem Subjekt die aktive Fähigkeit, sie umzuschreiben und weiterzuentwickeln. All das, ohne die Kohärenz zu verlieren oder den sozialen Einfluss zu vergessen.

Auch wenn die Identität ein Rätsel bleibt, das genauso wenig gelöst ist wie der Geist selbst, bietet Ricoeur einen komplexen Ansatz, an dem man arbeiten kann. Außerdem hinterlässt er eine wichtige Überlegung: Wie konstruieren wir unsere eigene Erzählung und wie konstruieren die Geschichten uns? Der Schlüssel liegt nach der narrativen Identitätstheorie in dieser komplexen und schönen Wechselwirkung.

▶ Lese-Tipp

  1. Paul Ricoeur: Eine Einführung in sein Denken, Ursula Meyer, ein-FACH-verlag 2022
  2. Das Selbst als ein Anderer (Übergänge), Paul Ricoeur, Wilhelm Fink Verlag 2005

Alle zitierten Quellen wurden von unserem Team gründlich geprüft, um deren Qualität, Verlässlichkeit, Aktualität und Gültigkeit zu gewährleisten. Die Bibliographie dieses Artikels wurde als zuverlässig und akademisch oder wissenschaftlich präzise angesehen.


  • Grondin, J. (2019). Paul Ricoeur. Herder Editorial.
  • Ricoeur, P. (1990). Sí mismo como otro. Siglo XXI Editores.
  • Ricoeur, P. (2000). Narratividad, fenomenología y hermenéutica. Anàlisi: quaderns de comunicació i cultura, (25), 189-207. https://www.raco.cat/index.php/Analisi/article/view/15057
  • Ricoeur, P. (2003). Tiempo y narración: Configuración del tiempo en el relato histórico (Vol. 1). Siglo xxi.
  • Salcedo, E. (2016). La identidad personal como identidad narrativa en Paul Ricoeur. Apuntes Filosóficos25(49), 117-131. https://dialnet.unirioja.es/servlet/articulo?codigo=5991124

Dieser Text dient nur zu Informationszwecken und ersetzt nicht die Beratung durch einen Fachmann. Bei Zweifeln konsultieren Sie Ihren Spezialisten.