Das Calimero-Syndrom: Jammern als Lebensstil
Wir alle kennen Menschen, die scheinbar ihr gesamtes Leben damit verbringen, sich über irgendetwas zu beschweren. Nichts scheint für sie richtig zu laufen und alles stört sie. Nachdem du dies gelesen hast, wirst sicherlich auch du einen solchen Menschen im Kopf haben. Der französische Psychoanalytiker Saverio Tomasella spricht in seinem Buch Le syndrome de Calimero (Das Calimero-Syndrom) über dieses Phänomen.
In seinem Buch bezieht er sich auf dieses mürrische (aber dennoch charmante) kleine Küken aus der italienisch-japanischen Zeichentrickserie. Wenn du dir das obige Bild ansiehst, weißt du sicherlich, wen wir damit meinen! Obwohl Tomasella einige komische Vergleiche bei seiner Erklärung dieses Syndroms zieht, ist die Thematik an sich tatsächlich ziemlich ernsthaft.
Nach Ansicht des Autors lässt sich der Hintergrund all dieser Beschwerden innerhalb eines bestimmten Kontextes finden. Insbesondere bei Menschen, die sich in einer angespannten sozioökonomischen Situation befinden und eine schwierige Lebensgeschichte haben. Denn das ist der Auslöser für diese Beschwerden. In der Tat behauptet der Autor, dass sich dahinter oft ein reales Leiden und emotionale Trauer verbirgt, welche aber wiederholt vernachlässigt wurde.
Obwohl dies häufig die Ursache ist, können viele dieser Menschen dennoch ziemlich anstrengend für ihre Angehörigen und ihnen nahestehende Menschen sein. Denn ihr Hang zum Schwarzsehen zeugt von einem unerbittlichen Pessimismus.
Allerdings gibt es auch andere Menschen, deren Klagen ein permanentes Bedürfnis nach Aufmerksamkeit darstellen. Und der Umgang damit kann ziemlich schwierig sein.
Was genau ist das Calimero-Syndrom?
Das Calimero-Syndrom ist ein zeitgenössisches Phänomen in einer Gesellschaft, die kurz vor der Implosion steht. Nach Tomasella “werden die Ungerechtigkeiten zunehmend offensichtlich; es lässt sich eine Parallele zu der Welt vor der Französischen Revolution im Jahr 1789 ziehen”.
Einigen werden Privilegien eingeräumt, während andere nur missbraucht und ausgenutzt werden. Infolge dieser Aspekte, die scheinbar fest in unserem Gesellschaftskonstrukt eingewoben zu sein scheinen, fühlen sich viele Menschen extrem ungerecht behandelt und haben ein reales Bedürfnis, sich zu beschweren.
Beschwerden, hinter denen sich etwas Schlimmeres verbirgt
In den meisten Fällen haben diejenigen, die sich sehr häufig beschweren, tatsächlich reale Ungerechtigkeiten erfahren und haben Angst davor, erneut zu Opfern zu werden. Einige “Calimeros” könnten beispielsweise tiefe Scham, Demütigung, Zurückweisung oder Verlassenwerden erlitten haben.
Schwere familiäre Traumata (Erbschaftsstreitigkeiten, Ruin, Exil und wirtschaftliche Migration) können bei Menschen ebenfalls bleibende Spuren im Leben hinterlassen. Diese Menschen werden dann zu einer Art Sprecher für ihre Familien und werden sich lautstark in deren Namen beschweren oder manchmal auch über sie. Daher verbergen sich hinter derartigen Beschwerden häufig sehr viel tiefere Probleme, als das auf den ersten Blick ersichtlich wird.
Allerdings beziehen sich die Klagen dieser Menschen häufig auf oberflächliche Themen wie eine Zugverspätung oder einen kalten Kaffee. Die eigentlich dahinter liegende sehr schwere persönliche Situation kommt praktisch nicht zur Sprache. Auf diese Weise können die Betroffenen ihren verborgenen Kummer oder Scham mit etwas Gutartigem in Verbindung bringen, das frei und öffentlich und ohne soziale oder emotionale Konsequenzen ausgedrückt werden kann.
Trotzdem stellen diese Beschwerden, wenn sie immer wieder wiederholt werden, oft die Geduld anderer Menschen auf die Probe.
Wenn Jammern und Klagen zu einem Lebensstil wird
Es ist durchaus möglich, sich zeitnah über etwas zu beschweren – und zwar auf positive Weise, die den Kern der Sache trifft. Es kann eine Möglichkeit sein, eine Situation zu verändern, in der ein Problem besteht. Bei der Arbeit, in einer Beziehung oder in der Familie. Aber viele Menschen bedauern sich stattdessen lieber selber, weil ihr Leben so verläuft, wie es verläuft.
Das Calimero-Syndrom tritt auf, wenn sich die Klagen und Beschwerden eines Menschen in einen Monolog und eine allgemeine Form des Umgangs mit anderen Menschen verwandeln.
Bei den meisten dieser Menschen besteht ein Bedürfnis danach, gehört zu werden, damit andere ihr Leiden auch erkennen. Bei anderen ist es eine gewisse Faulheit, die darin besteht, die Situation sich immer weiter verschlechtern zu lassen, nur um sich dann weiterhin fortwährend darüber beschweren zu können. Und schließlich gibt es eine Minderheit, die einfach nur versucht, die Aufmerksamkeit anderer auf sich zu ziehen.
Mache dich nicht über diese Beschwerden lustig
Ein Kind, ein Teenager oder sogar ein Erwachsener, der das Gefühl hat, dass seine Stimme nicht gehört wird, wenn ihm Ungerechtigkeit widerfahren ist, läuft Gefahr, in das Calimero-Syndrom zu verfallen. Indem der Betroffene dann seine Klagen fortwährend wiederholt.
Aber wenn andere Menschen sich dann über dieses Leiden und die Beschwerden lustig machen, bekommen die Betroffenen wiederum das Gefühl, dass ihnen eine weitere Ungerechtigkeit widerfahren ist.
Wenn du also eine Person verspottest oder auslachst, weil sie ihren Kummer und ihre Sorgen zum Ausdruck bringt, riskierst du dadurch, dass sich dieser Hang zum Beschweren noch weiter intensiviert.
Beschwerden aufgrund von Erschöpfung und ein Hilferuf
Einige Menschen klagen permanent darüber, der “Star der Show” zu sein und im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Darüber hinaus haben sie meist einen sehr theatralischen Lebensstil. Dies ist ein Weg, Situationen und andere Menschen zu kontrollieren. Man könnte auch diesen Menschen das Calimero-Syndrom zuschreiben, aber in Wahrheit ist ihre Schale noch nicht aufgebrochen. Daher solltest du deinen Verstand benutzen, um zu erkennen, wann dies der Fall ist.
Dennoch ist bei vielen Menschen, die sich fortwährend beschweren und klagen, tatsächlich etwas zerbrochen oder ruiniert. Darüber hinaus wissen sie oft nicht, wie sie aus all dem herauskommen und wie sie ihr Leben wieder neu aufbauen können. Aus diesem Grund musst du auch versuchen, Geduld mit solchen Menschen zu haben. Obwohl sie dich mit ihrer vielen Jammerei ermüden mögen, versuchen sie keinesfalls, dir damit zu schaden oder dir auf die Nerven zu gehen.
Diese Haltung erwächst oft aus schmerzlichen Erfahrungen in der Kindheit, die von der Familie nicht wahrgenommen wurden. Grundsätzlich sagen diese Menschen nicht “kümmere dich um mich”, sondern vielmehr “bitte höre mir zu”. Da sie so gefangen in ihrem Leiden sind, brauchen sie es, gehört zu werden. Und sie müssen zeigen können, wie sehr sie leiden.
Das Calimero-Syndrom: Es gibt eine Lösung für diese Hilferufe
Du solltest diesen Menschen mit Empathie begegnen, weil viele von ihnen reale und objektive Ungerechtigkeit erlebt haben. Wenn sie sich respektiert und wahrgenommen fühlen, kann ihnen das möglicherweise dabei helfen, voranzukommen.
Menschen, die sich nicht mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen und mit ihrer familiären Situation befassen möchten, können damit beginnen zu meditieren oder regelmäßig Sport zu treiben. Das wird ihnen dabei helfen, Stress und Spannungen abzubauen. Auf diese Weise kann sich ein Mensch Stück für Stück auf eine Therapie vorbereiten.
Es ist durchaus möglich, Beschwerden in emotionalen Ausdruck zu verwandeln. Und es ist auch möglich, die Gründe für diese Klagen zu verändern, welche diese Menschen davon abhalten, in ihrem Leben voranzukommen. Ein Mensch, der einem Betroffenen helfen will, hört sich auch die Geschichte hinter den Beschwerden an, vertieft sich in sie und wird versuchen, eine Möglichkeit zu finden, demjenigen Linderung zu verschaffen.