Wie können wir dem Kind helfen, das wir einst waren?
Die Aussage, dass wir alle irgendwann einmal Kinder waren, ist offensichtlich richtig. Selbst der aggressivste, jähzornigste, verbissenste oder toxischste Mensch hat eine Kindheit gehabt, vermeintlich sogar eine schöne. Aber es ist nicht alles Gold, was glänzt. Für viele Menschen war die Kindheit eine Phase in ihrem Leben, an die sie sich nicht gern erinnern. Und dennoch, auch sie sind durch ihre Kindheit geprägt. Wir alle tragen das Kind in uns, das wir damals waren.
Verwaiste, misshandelte, verlassene, kritisierte Kinder… Leider ist auch ein Kind nicht vor so schmerzhaften und fahrlässigen Verhaltensweisen seitens der Erwachsenen gefeit.
Und irgendwann müssen Betroffene den Preis für solch eine Kindheit zahlen. Dieses Kind wächst mit einem geringen Selbstwertgefühl auf und denkt, dass es der Liebe nicht würdig sei, dass man es immer wieder verlassen würde, dass es von anderen abhängig sei, um sein Glück zu finden, und dass es allein keinen Wert hätte. Wenn diese Kinder erwachsen werden, können all diese Leeren in Form von mangelndem Durchsetzungsvermögen, Eifersucht, Wut, aber sogar als Depressionen oder Süchte zum Vorschein kommen.
Es ist nicht unsere Absicht, uns die gesamte Schuld für unsere Vergangenheit auf unsere Schultern zu laden, und dafür, wie uns diese in der Gegenwart fühlen lässt. Dennoch ist es wichtig, zu erkennen, welchen Einfluss unsere Vergangenheit auf unsere Gegenwart hat, sowie uns Werkzeuge anzueignen, die wir brauchen, um trotz allem voranzukommen.
Dieses Kind, das noch immer in unserem Innern wohnt, ist noch immer verletzt und braucht unsere Hilfe, um heilen zu können.
Grundschemata
Jeffrey Young ist ein US-amerikanischer Psychologe, der als Entwickler der Schematherapie bekannt ist. Das Ziel dieser Therapie ist es, dass ein leidender Mensch sich der Schemata bewusst wird, die heute sein Leben bestimmen, und dass er lernt, wie diese geändert werden können. Derartige Schemata werden in der Kindheit erlernt und werden bis ins Erwachsenenalter mitgenommen. Die Schematherapie zielt also darauf ab, das innere Kind zu heilen.
Die Schemata bestehen aus Denkmustern, Gefühlen und sich wiederholenden Verhaltensweisen, wenn wir uns in einer bestimmten Situation befinden.
Wenn uns beispielsweise unsere Mutter verlassen hat, als wir noch ein Kind waren, und das eine Erfahrung war, mit der wir nicht umgehen konnten, kann es gut sein, dass wir heute Angst davor haben, wieder verlassen zu werden. Das wirkt sich auf Freundschaften, familiäre Bande und unsere Partnerschaft aus und kann zur Folge haben, dass wir eifersüchtig oder aggressiv reagieren oder uns von anderen abhängig machen.
Wenn wir zum Beispiel annehmen, dass wir diese für uns so wichtige Figur, die Mutter, auf unseren Partner projizieren, so kann uns das glauben machen, dass wir seine Liebe nicht verdienten. Wir nehmen daher irrtümlicherweise an, dass auch er uns verlassen wird, so wie es unsere Mutter einst tat.
Neben der Schemadomäne der Verlassenheit gibt es noch weitere, z.B. emotionale Entbehrung, Versagen, Anfälligkeit für Schädigung und Misstrauen, was wir aufgrund der Weite des Themas hier nicht weiter ausführen werden. Sie alle haben gemein, dass sie in der Kindheit entstanden sind, entweder infolge der Entwicklung familiärer Bindungen oder durch traumatische Kindheitserfahrungen.
Diese Schemata sind auch im Erwachsenenalter noch vorhanden und zeigen sich, wenn wir auf Situationen stoßen, die denen ähneln, die wir in der Kindheit erlebt haben.
Das innere Kind heilen
Kognitive Verhaltenstherapien zielen auf die Veränderung automatischer, negativer Gedanken und aktueller Überzeugungen. Zusätzlich werden bestimmte sich wiederholende Verhaltensweisen, die dysfunktional sind, systematisch korrigiert. In der kognitiven Verhaltenstherapie wird auch an Gefühlen und deren Einfluss auf unser Verhalten gearbeitet.
Die Schematherapie ist gewissermaßen eine weiterentwickelte kognitive Verhaltenstherapie: In der Schematherapie wird zusätzlich ein Blick in die Vergangenheit geworfen. Es wird noch einmal erlebt, was uns verletzte, als wir jung waren. Das Ziel ist es, dass wir als Erwachsene unserem inneren Kind helfen können.
Eine Übung, die wir jeden Tag ausführen können, ist, uns selbst als Kinder in einer Situation, die schmerzhaft war und die wir nicht überwunden haben, vorzustellen. Schließe die Augen, entspanne dich und versuche dir, jene Situation aus der Vergangenheit so genau wie möglich vorzustellen. Beobachte diesen Jungen oder dieses Mädchen, das du warst, und erlebe noch einmal die Gefühle, die du einst gefühlt hast. Fliehe nicht vor der Traurigkeit, der Angst oder Wut, die damals bei dir aufgekommen ist. Erlaube dir, sie genau in dem Maß wieder zu erleben.
Wenn du diese Situation wieder erlebst und sie fast wie an jenem Tag in der Vergangenheit fühlst, solltest du dich als weiser Erwachsener einbringen und dem Kind helfen. Der Erwachsene umarmt das Kind, trocknet seine Tränen, versteht es und sagt ihm, dass er für immer für es da ist. Darüber hinaus fragt der Erwachsene das Kind, was es braucht, und versucht, seine Bedürfnisse zu befriedigen. Weiterhin sollte der Erwachsene das Kind dazu ermutigen, zu verzeihen. Dieser so mutige Akt zerschlägt die Ketten der Versklavung durch eine schwierig zu überwindende Erinnerung, die uns auch heute noch zu schaffen macht.
Es handelt sich dabei um eine sehr emotionale Übung, die hilft, unsere Gefühle besser zu verstehen und nach und nach und mit viel Übung die dysfunktionalen Schemata, die wir uns angeeignet haben, zu deaktivieren.
Bildmaterial mit freundlicher Genehmigung von Amanda Cass