Was ist eine komplizierte oder pathologische Trauer?
Wer schon einmal einen geliebten Menschen verloren hat, weiß wovon wir reden. Die komplizierte oder pathologische Trauer ist wie eine Spirale, in der der Schmerz in unserem Inneren immer größer wird, was es uns zunehmend schwieriger macht, zu atmen und zu leben. Wir sprechen von dieser Luft, die uns ersticken lässt, von diesem Trost, der nicht existiert, von dieser Hoffnungslosigkeit, die unsere Gegenwart vernebelt.
Trauer, dieser vollkommen normale Prozess, den wir alle durchmachen, wenn wir jemanden oder etwas Wichtiges verlieren, ist für denjenigen, der sie erleben muss, an sich schon eine schmerzhafte Zeit. Doch wenn sich diese Trauer in unserem Leben einnistet, kein Ende findet und es uns unmöglich macht, in Frieden zu leben, sprechen wir von einem anderen Stadium der Trauer. Dieses Stadium ist die sogenannte komplizierte oder pathologische Trauer.
Bei der pathologischen Trauer kommen wir emotional gesehen nicht zur Ruhe. Sie ist eine schwere Belastung für unsere Routine, unsere Gefühle, unseren Körper. Aber wie können wir eine normale Trauer von einer komplizierten Trauer unterscheiden? Es ist sehr wichtig, diese Unterschiede aufzuklären, da sie darüber bestimmen, wie wir an unserem Schmerz arbeiten können. Darüber hinaus verändert sich abhängig von der Art der Trauer auch die Art und Weise, die Trauer anzugehen, sei es auf therapeutischer oder persönlicher Ebene.
Pathologische Trauer entsteht, wenn Schmerzen unterdrückt oder geleugnet werden
Es gibt viele Menschen, für die Schmerzen wie eine Art Treibsand sind, aus dem sie herauskommen wollen, doch während sie sich bewegen oder einen Schritt nach vorn tun, haben sie das Gefühl, dass sie jeden Tag mehr und mehr gefangen seien. Oftmals ist der Grund für diese Situation der, dass sie nicht gelernt haben, sich mit ihrem eigenen Schmerz zu verbinden. Diesen Lernprozess haben sie nicht verinnerlicht, weil sie sich nicht eingestehen wollten, dass es diesen Schmerz gibt. Viele derjenigen, die sich in einer komplizierten Trauer gefangen fühlen, haben sich diesen Schmerz niemals eingestanden, auch wenn die Symptome dafür noch so offensichtlich waren.
In unserer Gesellschaft herrscht der Gedanke vor, dass Schmerzen etwas für Feiglinge seien, und wir mutig sein müssten, so wie es uns von klein auf beigebracht wurde. Dieser Glaubenssatz erschafft die Mauern rund um diesen Schmerz. Baut ein Gefängnis, in dem man Stillschweigen über seine Gefühle bewahrt und nur für sich mit diesem Schmerz ist. Ein Ort, an dem diese Bombe die größten Zerstörungen anrichtet.
Diese Denkweise hilft nicht, den Weg des Trauerns zu gehen. Sie macht die Trauer nur noch schlimmer und nimmt sie gefangen. Es gibt so viele Menschen, die ihre Trauer leugnen. Sie geben sich innerhalb ihrer Familie als unzerstörbare Wesen und schlucken jeglichen Ausdruck von „Verletzlichkeit“ einfach herrunter. Dafür bringen sie Argumente vor wie „Jetzt ist nicht der Moment dafür, traurig zu sein“ oder „Das hätte er nicht gewollt“.
Solche Gedanken führen dazu, dass der Prozess des Trauerns jenes Stadium erreicht, das wir oben bereits angesprochen ahben: die pathologische Trauer. Die Trauer wird geleugnet und heruntergeschluckt. Sie wird unter den Teppich gekehrt oder schlichtweg ad acta gelegt. Je mehr wir uns darum bemühen, etwas zu unterdrücken und nicht an die Oberfläche kommen zu lassen, desto größer wird es. Gleichzeitig verlieren wir die Kontrolle darüber, wie sich dieser Schmerz manifestiert. Es wird der Punkt erreicht, an dem unsere Bemühungen, den Schmerz zu leugnen, unnütz werden. Dann wird der Schmerz wie die Lava eines brodelnden Vulkans ausbrechen.
Unser Körper ist weise und wird diesen Schmerz zum Ausdruck bringen, auch wenn unser Verstand davon ablenkt
Wenn es in unserem Körper eine unterdrückte „Kraft“ gibt, wird sie immer auf die ein oder andere Weise zum Vorschein kommen. Oftmals entwickeln Betroffene somatische Beschwerden. Was nicht ausgesprochen wird, drückt sich somit auf körperlicher oder verhaltenstechnischer Ebene aus. Uns selbst können wir nicht hinters Licht führen. Wir sind Verstand und Körper. Unser Körper und Geist bilden eine Einheit, sodass alles Einfluss auf beides nimmt.
Andere Male wird aus einem normalen Trauerprozess eine pathologische Trauer, wenn es sich um eine länger als gewöhnlich anhaltende Trauer handelt. Wenn die Jahre vorbeigehen und das Leid immer noch vorhanden und unverändert ist. Wenn der Schmerz nicht an Intensität verliert oder nicht zu einer Lektion fürs Leben wird.
Die normalen „Trauersymptome“ werden stärker. Daraus können sich depressive Störungen, Angst- und Verhaltensstörungen ergeben, die ein normales Leben für den Betroffenen unmöglich machen. Es entwickeln sich Symptome, die zu weiteren, damit in Zusammenhang stehenden Problemen führen können. In diesen Fällen muss man so bald wie möglich intervenieren, damit das bereits vorhandene Leid nicht noch größer wird.
Eine Therapie wird uns dabei helfen, dieser so schmerzlichen Erfahrung eine neue Bedeutung zuzuschreiben
Es ist äußerst wichtig, Gefühle, die wir empfinden, nicht zu leugnen. Doch genauso wichtig ist es auch, an ihnen arbeiten zu können, sobald sie uns an einen Punkt bringen, an dem sie uns ein normales Leben nicht mehr ermöglichen. Eine Therapie kann uns dabei helfen, jenen Verlust zu verarbeiten, der uns in diese Trauer gestürzt hat. Denn jeder Mensch ist ein Universum, mit einem einzigartigen Reichtum, das sich von dem anderer Menschen unterscheidet.
Es gibt immer Wege, die uns helfen, den Alltag in solch einer Situation zu erleichtern. In diesem Sinne ist es wichtig, jemanden zu haben, mit dem wir unseren Schmerz teilen können. Jemanden, mit dem wir dieser Erfahrung allmählich neue Bedeutungen zuschreiben können. Eine schmerzhafte Erfahrung, die angesichts unserer Existenz voller Weisheit steckt.
Zögere nicht, um Hilfe zu bitten, wenn du sie brauchst. Auch solltest du deine wahren Gefühle nicht unterdrücken, nur weil dir beigebracht wurde, dass du „funktionieren“ musst. Jeder reagiert auf die Art und Weise, wie sein Körper es ihm vorgibt. Höre auf deinen Körper und gib ihm die Möglichkeit, zu heilen oder gar nicht erst krank zu werden.