Soziale Wahrnehmung: die komplexe Kunst, Rückschlüsse auf andere zu ziehen

In diesem Artikel beschäftigen wir uns mit der Wahrnehmung unserer Mitmenschen, die es uns ermöglicht, uns eine Meinung zu bilden.
Soziale Wahrnehmung: die komplexe Kunst, Rückschlüsse auf andere zu ziehen
Valeria Sabater

Geschrieben und geprüft von der Psychologin Valeria Sabater.

Letzte Aktualisierung: 15. November 2021

Vieles von dem, was du über andere glaubst, ist nicht wahr. Es gibt tatsächlich Menschen, die sich in Sachen soziale Wahrnehmung für einen echten Sherlock Holmes halten, aber bei jeder Schlussfolgerung und Interpretation des Verhaltens anderer Menschen versagen. Wir scheitern, weil im echten Leben nichts so komplex ist wie der Versuch, Menschen zu verstehen und sich ein richtiges Bild von ihnen zu machen.

Wir alle haben schon einmal versucht, diese Momente zu erklären, in denen wir sehen, wie sich jemand auf eine besondere Art und Weise verhält. Wenn wir zum Beispiel jemanden an einer U-Bahn-Haltestelle weinen sehen, gehen wir davon aus, dass diese Person unter Liebeskummer leidet. Die besorgte Frau, die in ihrem Auto telefoniert, hat diesen Gesichtsausdruck, weil ihr Sohn ihr sicher schlechte Nachrichten überbracht hat…

Wir könnten tausend Beispiele für diese fantasievollen Interpretationen nennen, die unser Verstand für viele Situationen im täglichen Leben findet. In fast 80 % der Fälle irren wir uns. Wissenschaftler sind in einer Studie zu diesem Schluss gekommen. Diese Untersuchung erwähnt auch, dass die meisten falsch interpretieren, wie sie von anderen wahrgenommen werden. 

Die Tatsache, dass wir viele Dinge für selbstverständlich halten, bedeutet nicht, dass sie tatsächlich wahr sind. Jeder von uns konstruiert seine Wahrheiten durch die soziale Wahrnehmung, und das kann manchmal zu unnötigem Leid führen und erhebliche Vorurteile und Stereotypen verstärken.

Soziale Wahrnehmung: die komplexe Kunst, Rückschlüsse auf andere zu ziehen

Was ist soziale Wahrnehmung?

Soziale Wahrnehmung bezeichnet die mentalen Prozesse, die es uns ermöglichen, Rückschlüsse und Eindrücke über andere Menschen zu gewinnen. Es sind die Überlegungen und Interpretationen, die wir anstellen, wenn wir ihr Verhalten, ihr Auftreten, ihre verbale und nonverbale Sprache beobachten.

Die psychologische Forschung zu diesem Thema begann in den späten 1950er-Jahren durch die Arbeit des österreichischen Psychologen Fritz Heider. Als führender Vertreter der Gestalt-Schule veröffentlichte er eine Abhandlung mit dem Titel “Psychologie der interpersonalen Beziehungen”, die den Grundstein für die Erforschung der sozialen Wahrnehmung legte..

Später widmete sich Solomon Asch dieser Thematik. Ihm zufolge schauen wir auf zentrale Merkmale (Aussehen) und leiten daraus andere periphere Merkmale (Persönlichkeit) ab. Asch wies auch darauf hin, dass die soziale Wahrnehmung kein Abbild der Realität ist, dennoch betrachten wir sie als unsere Wahrheit. Dies kann allerdings problematisch sein.

Die verzerrte Linse, durch die du die Welt wahrnimmst

Die soziale Wahrnehmung verhält sich wie eine Linse, durch die wir die Realität sehen. Aber wir müssen vorsichtig sein, denn sie ist verzerrt. Sie ist kein genaues Abbild der Realität, und doch sind wir uns dessen nicht bewusst. Die Wahrheit ist, dass wir die Welt und die Menschen durch eine schlecht graduierte Brille betrachten.

Das Problem ist, dass wir die Welt durch Faktoren wie Emotionen, vorgefasste Meinungen, Bildung, genetische Veranlagungen, Vorurteile, Stereotypen und eine Vielzahl anderer kognitiver Verzerrungen analysieren. Daniel Kahneman, der bekannte Psychologe und Wirtschaftsnobelpreisträger, ist ein Experte für all diese verzerrenden Faktoren.

Wir alle nutzen Dutzende von kognitiven Verzerrungen, die eine subjektive soziale Realität schaffen, die keine Ähnlichkeit mit der objektiven Wirklichkeit hat. Nicht wenige von uns fragen sich jetzt vielleicht, wie wichtig es ist, in “unserer eigenen Realität” zu leben. Haben wir nicht das Recht, unsere eigenen Schlüsse zu ziehen und nach ihnen zu leben?

Sei vorsichtig, denn die soziale Wahrnehmung kann uns zu voreingenommenen Schlüssen verleiten. Es ist auch dieses psychologische Konstrukt, das dazu führt, dass Menschen radikale Ansichten über Dinge haben und es schwierig ist, sich zu einigen. Und schließlich kann es sein, dass wir unser Potenzial und unser Wohlergehen als selbstverständlich ansehen und einschränken.

Eine der größten Herausforderungen für uns Menschen ist es, dafür zu sorgen, dass unsere sozialen Wahrnehmungen so nah wie möglich an der Realität sind. Nur so können wir eine respektvollere Gesellschaft gestalten, die frei von schnellen und gefährlichen Urteilen ist.

Frau hat verzerrte soziale Wahrnehmung

Das sinnlose Leiden und wie wir glauben, von anderen wahrgenommen zu werden

Für manche Menschen ist die Erde flach. Für andere ist es gefährlich, eine bestimmte Hautfarbe zu haben. Manche Menschen betrachten Menschen mit Tattoos mit Angst, während andere volles Vertrauen in die Güte der Menschen haben. Soziale Wahrnehmung bedeutet, dass jeder Mensch eine bevorzugte Realität hat und sich darin als Siedler positioniert, der sich sein moralisches und ideologisches Stück Land erobert, um darauf zu leben.

Die soziale Wahrnehmung hängt jedoch auch damit zusammen, wie wir glauben, von anderen wahrgenommen zu werden. Und das kann manchmal problematisch sein. Wir bewerten ständig, wie uns unsere Mitmenschen wahrnehmen. Mögen sie mich? Wirke ich interessant oder unwissend? Scheine ich unsicher oder entschlossen, langweilig oder witzig?

Forschungsarbeiten, wie die von den Universitäten Harvard, Cornell, Essex und Yale, haben herausgefunden, dass wir dazu neigen, die Wirkung, die wir auf andere haben, zu unterschätzen. Diese Studie untermauert, dass wir nach einem Gespräch mit einem Fremden dazu neigen zu glauben, keinen guten Eindruck gemacht zu haben. Das ist ein Fehler.

Soziale Wahrnehmung und die Sympathielücke

Es ist offensichtlich, dass uns nicht jeder mögen kann. Unsere soziale Wahrnehmung des Eindrucks, den wir auf andere machen, ist jedoch “fast” immer neutral oder negativ. Dies wird als “Liking Gap” bezeichnet. Die Wahrheit ist jedoch, dass wir die Wahrnehmung weitaus positiver ist, als wir denken.

Wir sollten deshalb damit aufhören, uns auf den Wert oder Einfluss zu konzentrieren, den wir auf andere Menschen ausüben. Die Wahrheit ist, dass Zweifel fehl am Platz sind, denn die Chance akzeptiert zu werden ist größer, als nicht gemocht zu werden. Ferner betrachten wir uns selbst oft ebenfalls durch eine negative Linse, was sich entsprechend auf unser Selbstwertgefühl auswirkt.

Es ist an der Zeit, die soziale Wahrnehmung realistischer zu gestalten, um weniger zu leiden und keine übereilten Urteile zu fällen. Wir können die Stereotypisierung und auch Vorurteile verhindern.


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  • Boothby, E. J., Cooney, G., Sandstrom, G. M., & Clark, M. S. (2018). The liking gap in conversations: Do people like us more than we think? Psychological Science, 29(11), 1742–1756. https://doi.org/10.1177/0956797618783714

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