Man kann nicht schlecht gelaunt im Wald verweilen…
Von Kindheit an verbringe ich viel Lebenszeit im Wald. In unseren Bergwäldern oder in der Au, auf Reisen in Buchenwäldern, in Eichenhainen oder Mischwäldern, in Urwäldern (die in Europa nur noch spärlich aufzuspüren sind) in Natur- und Wirtschaftswäldern. Alle haben sie eine eigene Erscheinung, ein eigenes Licht, besondere Aromen, Baumarten, Wuchsformen, Schichten und Altersstrukturen und vor allem: Wirkungen.
Dabei mache ich „Selbstversuche“. Wie fühlt sich dies an, was ist anders, besonders, was macht es mit mir? Daraus sind einige wichtige und merkwürdige Erfahrungen entstanden. Fakten, würde die Wissenschaft sagen. Wahrheiten würden andere meinen. Die Natur, insbesondere die Wälder sind so unterschiedlich und komplex. Es ist schwer, sie in Kategorien einzuteilen -obwohl dies Experten gerne machen – und kaum zu vergleichen.
Der Wald ist die komplexeste Lebensgemeinschaft auf unserer Erde. Unzählige Organismen und Ökosysteme leben von und miteinander, greifen ineinander ein, sind in Abhängigkeit und verändern sich.
Seit Jahrzehnten also besuche ich Wälder. In meiner eigenen Art. Langsam, behutsam, achtsam. Meine Fotoausrüstung und ein Rucksack für Eventualitäten begleiten mich stets. Ich beobachte, lausche und rieche. Ich fühle nicht nur mit Händen, sondern gehe so oft es möglich ist, barfuß. Ich schreibe auf und dokumentiere mit der schweren Profikamera. Und ich vergleiche. Wälder miteinander, Besuche in zeitlichem Abstand. Früher und jetzt und morgen.
Meistens bin ich alleine. Aber ich weiß, dass nicht nur ich hier bin. Die Bäume, lebende, große und komplexe Lebewesen, die über die Wurzeln und über ihre Duftstoffe miteinander kommunizieren. Kleinstlebewesen wie Insekten und Spinnen, kleine, zarte Vögel und große, pfeilschnelle Greifvögel. Mäuse und Marder, Eichhörnchen und Rehe. Hirsche und Wildschweine… und viele tausend weitere, lebende Organismen, die mich wahrnehmen, die sich verstecken oder nur still dastehen.
Ich habe gelernt, im Wald meine Sinne zu schärfen. Mit allen Sinnen aufzunehmen. Ein Ritual, das sich für mich sehr passend anfühlt, ist, dass ich eine halbe Stunde unter einem Baum, auf einer moosigen oder laubigen Bodenfläche liege und schlafe. Ich fühle mich immer wohl dabei, selbst in den dunkelsten und abgelegensten Wäldern. Es ist mir noch nie etwas Arges passiert. Jedoch, nach dem Aufwachen – ist der Wald anders. Ich bin Teil von ihm geworden, zumindest fühlt es sich so an. Plötzlich sehe ich Tiere um mich, die Bäume erscheinen gewogen und der Boden fühlt sich an, als ob ich immer schon hier gelebt habe.
Das ist der Moment des vollen Genusses, das Aufblühen aller Sinne. Das Waldleben hat mich aufgenommen. Dann entstehen die schönsten Fotos, weil ich plötzlich Einblicke finde, dann sehe ich versteckte Schönheiten und urige Gesellen. Die Tiere, die mich bislang nur beobachtet haben, haben verstanden. Es besteht keine Gefahr und sie zeigen sich. Die lustige Rötelmaus die mir aufgeregt ihre zahlreichen Höhleneingänge vorstellt, das Reh, das gelassen in der Krautfläche äst und der Buntspecht, der genau über mir den schmackhaftesten Stammplatz gefunden hat. Ein paradiesgleiches Erlebnis, das mir oft widerfährt.
Ab diesem Zeitpunkt läuft es sich barfuß geradezu federleicht. Die weichen Waldbodenflächen wechseln sich mit Wurzeln und Zapfen ab, feuchte und trockene Stellen zeigen sich. Sonnseitig verströmen Nadelgehölze harzige Düfte. Die Eichen lassen mich ihre Gerbsäuren aufnehmen und im regennassen Laubboden spüre ich Pilzaromen und Modergerüche auf. So artenreich der Wald, so abwechslungsreich seine Düfte.
Vor langer Zeit habe ich mich sehr intensiv, forschend und wissenschaftlich mit dem Ökosystem Wald beschäftigt. Ich weiß inzwischen sehr viel über ihn. Wie sich Bäume Botschaften über ihre Feinwurzeln und Pilzmyzelen zusenden und einander Nährstoffe zukommen lassen. Ich habe – zumindest ansatzweise – verstanden, wie dieses komplizierte Gebilde unzähliger Lebensformen – unser Wald – funktioniert und wie sensibel er reagiert. Allerdings gibt es da so viele Fragen, die mir niemand erklären kann. Und so forsche und suche ich weiter, versuche zu erkennen und zu verstehen. Eine Eigenschaft, die ich bei so vielen Menschen vermisse, die beruflich mit dem Wald zu tun haben. Ob das wohl mit Selbstschutz zu tun hat…?
Jetzt, wo sich die schon lange vorausgesagte Klimaerhitzung einstellt und verschiedene Waldgesellschaften, vor allem die unnatürlich angelegten Reinkulturen standortfremder Baumarten im Dürrestress sich nicht mehr gegen Fressfeinde und Ausstrocknung wehren können. Jetzt, wo vielerorts der Wirtschaftswald überfordert wird mit Einschlägen und Holznutzung, mit Sportevents und Spaßgesellschaften. Gerade jetzt, wo er Ruhe bräuchte und einige Jahrzehnte, um sich neu aufzustellen, neu zu gestalten. Die Natur kann das, sie braucht Zeit für Versuch und Irrtum und sie macht es letztlich richtig. Angeblich – so sagt die Holz-und Papierindustrie – haben wir diese Zeit nicht und schlägt vehementer ein und forstet radikaler auf. Ich weiß, dass sie sich auch diesmal irrt. Leider.
Oft werde ich gefragt, was man für unsere Wälder tun könne. Es ist einfach: gehe in den Wald, sei ruhig dabei und schaue! Lass immer die Zigaretten zuhause (die haben im Wald ohnehin nichts verloren), lass dein Handy weg und lege deine Uhr ab. Nimm dir Zeit und bleibe dabei gelassen. Egal, ob die Sonne scheint oder es regnet. Sorge vor, und gehe behutsam. Beobachte, lausche und rieche. Du tust dir dabei sehr viel Gutes, du kannst im Wald gesunden und dich entspannen. Bleibe ruhig, gehe langsam und weit. Im Wald regiert die Naturzeit.
Wenn du noch mehr tun willst – animiere andere – es dir gleichzutun. Spende für Baum- und Waldaktionen (am besten hier und da, wo du es auch miterleben kannst). Pflanze Bäume oder hilf bei Baumpflanzungen. Wir alle können unsere Wälder stützen und stärken und mithelfen, damit sie für unsere Kinder weiter leben…
Ⓒ Conrad Amber, September 2022