Leiden intelligente Menschen häufiger an Zwangsstörungen?

Die Unterhaltungsindustrie hat den Glauben genährt, dass intelligente Menschen anfälliger für Zwangsstörungen sind. Ist das ein Mythos oder Realität?
Leiden intelligente Menschen häufiger an Zwangsstörungen?
José Padilla

Geschrieben und geprüft von dem Psychologen José Padilla.

Letzte Aktualisierung: 16. Januar 2024

Der Glaube, dass intelligente Menschen häufiger an Zwangsstörungen leiden, ist weitverbreitet. Doch was sagen Experten zu diesem Thema? Wir versuchen heute, diese Frage zu beantworten und stützen uns dabei auf zwei aktuelle Studien.

Zwangsstörungen und Intelligenz

Zwangsstörungen äußern sich durch wiederkehrende, unerwünschte Gedanken (Obsessionen) und das wiederholte Durchführen von Handlungen oder Ritualen (Zwänge). Die Intelligenz bezieht sich hingegen auf die Fähigkeit, sich an die Umwelt anzupassen und Probleme durch vorhandenes Wissen, Erfahrungen und neue Erkenntnisse zu lösen. Der Glaube, dass intelligente Menschen häufiger an Zwangsstörungen leiden, geht zum Teil auf die Annahme zurück, dass sie zur Reflexion und Selbstbeobachtung neigen, was sie für diese Art von Störungen prädisponiert.

Andererseits glauben viele auch, dass ein besseres analytisches Denken dazu führt, dass intelligente Personen mehr auf kleine Details achten, was sie ebenfalls für Zwangsstörungen anfälliger machen könnte. Doch was sagt die Wissenschaft zu diesem Thema?

Mythos oder Realität: Leiden intelligente Menschen häufiger an Zwangsstörungen?

Eine in Neuropsychology Review veröffentlichte Meta-Analyse aus dem Jahr 2018 zeigt, dass es sich um einen Mythos handelt. Ziel dieser Studie war es, die wissenschaftliche Literatur über den Zusammenhang zwischen Intelligenz und Zwangsstörungen zusammenzufassen. Die Experten sammelten Informationen aus 98 Untersuchungen, die verschiedene Arten von Intelligenz abdeckten, und zwar den verbalen IQ, den Leistungs-IQ und den Vollskalen-IQ.

Das Wissenschaftlerteam analysierte mögliche Unterschiede der Intelligenz bei Menschen mit Zwangsstörungen und der Kontrollgruppe (Menschen ohne psychische Störung). Die Ergebnisse waren eindeutig: Zwangsstörungen können nicht mit einer höheren Intelligenz assoziiert werden. Ganz im Gegenteil: Betroffene wiesen in dieser Übersicht sogar unterdurchschnittliche Intelligenzwerte auf. Der Unterschied war jedoch statistisch nicht signifikant.

Woher kommt dieser Mythos?

Verschiedene kulturelle und stereotype Darstellungen, die in verschiedenen Medien und der Unterhaltungsindustrie verbreitet werden, sind weitgehend für die Annahme verantwortlich, dass intelligente Menschen häufiger an Zwangsstörungen leiden.

In Filmen, Serien, Romanen und Büchern werden Menschen mit Zwangsstörungen häufig als intelligent dargestellt. Dieses Bild kann ein verallgemeinertes Klischee über die Lebensweise und die kognitiven Fähigkeiten dieser Personengruppe schaffen.

Eine weitere mögliche Erklärung ist, dass bestimmte Eigenschaften, die mit dieser Störung in Verbindung gebracht werden (Perfektion, Kontrolle, Ordnungsliebe, Akribie, Liebe zum Detail u. a.), auch intelligenten Menschen zugeschrieben werden. Dieser Zufall könnte zu falschen Schlussfolgerungen führen.

Außerdem zeigten in der Geschichte verschiedene berühmte und intelligente Menschen (Nikola Tesla, Ludwig van Beethoven, Charles Dickens, Charles Darwin, Marcel Proust) Züge einer Zwangsstörung, was die Annahme stützt, dass Menschen mit einem hohen IQ eher an dieser Störung leiden. Heute wissen wir jedoch, dass dies nicht der Fall ist.

Intelligenz und psychische Störungen

Es gibt keinen allgemeinen Zusammenhang zwischen hoher Intelligenz und einem erhöhten Risiko für psychische Störungen. Das zeigt eine Studie aus dem Jahr 2023, in der konkret der Zusammenhang zwischen Intelligenz und der Häufigkeit psychischer Störungen untersucht wurde. Auch bei Zwangsstörungen weisen die Autoren darauf hin, dass es keinen signifikanten Zusammenhang mit der Intelligenz gibt.

Die Ergebnisse deuten außerdem darauf hin, dass hohe Intelligenz als Schutzfaktor gegen posttraumatische Belastungsstörungen und Angstzustände wirkt. Ferner ist die Wahrscheinlichkeit geringer, dass Menschen mit hoher Intelligenz Missbrauch und Stress erleben – und diese beiden Situationen stellen Risikofaktoren für Zwangsstörungen dar.

Obwohl es viele Diskussionen über den Zusammenhang zwischen Intelligenz und psychischen Störungen gibt, belegen die beiden untersuchten Studien, dass ein hoher IQ keinen Einfluss auf die Neigung zu Zwangsstörungen oder anderen psychischen Störungen hat.

Die Risikofaktoren für Zwangsstörungen

Dieses Thema ist bislang nicht ausreichend erforscht, es ist jedoch bekannt, dass folgende Risikofaktoren eine Rolle spielen:

  • Alter: Diese Störung tritt häufiger bei älteren Jugendlichen und jungen Erwachsenen auf.
  • Genetik: Menschen mit Familienmitgliedern, die an einer Zwangsstörung leiden, haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, daran zu erkranken.
  • Erziehungsstil: Extrem perfektionistische, kritische und kontrollierende Eltern erhöhen die Wahrscheinlichkeit von Zwangsstörungen.
  • Temperament: Menschen mit einer eher zurückhaltenden Art und einer höheren Prävalenz negativer Emotionen.
  • Persönlichkeit: Menschen mit perfektionistischen, neurotischen Zügen, die empfindlich auf Unsicherheiten reagieren und ein hohes Kontrollbedürfnis haben.
  • Neurobiologische Faktoren: Veränderungen im frontalen Kortex und in subkortikalen Strukturen, die die Kontrolle von Verhalten und Emotionen beeinträchtigen können.
  • Stressige Lebensereignisse: Traumatische Erfahrungen (Mobbing, Vernachlässigung, Misshandlung, Missbrauch, Vergewaltigung, Katastrophen usw.) in der Kindheit gelten als wichtige Risikofaktoren.

Es ist wichtig klarzustellen, dass diese Variablen nicht für den Ausbruch der Störung verantwortlich sind. Es handelt sich um Risikofaktoren, aber keine direkten Verursacher.

Fazit

Die Beziehung zwischen Intelligenz und Zwangsstörungen ist komplex, doch es scheint keine direkten Zusammenhänge zu geben, wie aus aktuellen Forschungsstudien hervorgeht. Es gibt andere Faktoren, wie Genetik, Erziehung, Traumata oder Persönlichkeitsmerkmale, die einen größeren Einfluss ausüben. Wir dürfen nicht vergessen, dass es sich um eine komplexe und multifaktorielle Störung handelt.


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