Langzeiteinnahme von Antidepressiva - mögliche Konsequenzen
Zwischen 2015 und 2020 ist die Einnahme von Antidepressiva in Deutschland von 56,4 auf knapp über 62 Tagesdosen je 1.000 Einwohner gestiegen. Zwar kommen diese Arzneimittel vielfach zum Einsatz, wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass die Langzeiteinnahme von Antidepressiva unerwünschte Folgen haben kann.
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Wie wirken Antidepressiva?
Wir sprechen über eine Gruppe von Medikamenten, die Auswirkungen auf die Gehirnchemie haben: Sie erzielen stimmungsaufhellende Effekte und sind deshalb bei Depressionen angezeigt. Grundsätzlich werden Antidepressiva in folgende drei Gruppen unterteilt:
- Trizyklika stimulieren die Produktion von Serotonin. Es handelt sich um die ältesten Antidepressiva, wobei die Nebenwirkungen besonders hoch sind. Schläfrigkeit, Verstopfung und Schwindelgefühle zählen zu den häufigen Auswirkungen.
- SNRIs (Selektive Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer) verursachen ebenfalls Nebenwirkungen (z. B. Appetitveränderungen). Es handelt sich um die wirksamsten Antidepressiva, wenn es darum geht, die Stimmung ohne Sedierung aufzuhellen. Sie kommen unter anderem bei Angstzuständen zum Einsatz.
- SSRIs (Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer) fördern die Produktion von Serotonin, indem sie die Wiederaufnahme verhindern und so die Wirkung dieses Botenstoffs verstärken und verlängern. Fluoxetin (Prozac) zählt zu den bekanntesten Wirkstoffen, allerdings ist dieses Medikament auch umstritten. Es ist bei schweren Depressionen das Mittel der ersten Wahl, macht jedoch abhängig. Deshalb muss die Einnahme unbedingt sorgfältig überwacht werden.
Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass die meisten Neurotransmitter nicht nur eine einzige Funktion erfüllen. Serotonin ist zum Beispiel nicht nur für die Stimmung zuständig, sondern spielt auch im Knochenstoffwechsel, der Blutgerinnung und anderen Bereichen des zentralen Nervensystems eine wichtige Rolle. Deshalb sind die Nebenwirkungen dieser Medikamente vielfältig.
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Dauer einer Behandlung mit Antidepressiva
In der Regel verschreiben Fachärzte Antidepressiva über einen Zeitraum von sechs bis zwölf Monaten, um den Patienten oder die Patientin zu stabilisieren. Die Einnahme kann nach Bedarf jedoch auch verlängert werden.
Nach mehr als zwei Jahren sollte das Medikament jedoch langsam und vorsichtig abgesetzt werden, denn der Körper ist bereits abhängig. Der abrupte Entzug könnte zu erhöhter Reizbarkeit, Schlaflosigkeit, Angstzuständen, Zittern und kalten Schweißausbrüchen führen.
Ob und wie lange Antidepressiva zum Einsatz kommen, sollte immer ein Facharzt oder eine Fachärztin entscheiden. Zögere nicht daran, nachzufragen, um die Wirkung und mögliche Folgen besser zu verstehen.
Langzeiteinnahme von Antidepressiva – mögliche Folgen
Mögliche Entzugssymptome sind bei einer Langzeiteinnahme von Antidepressiva nicht das einzige Problem. Die Ärztin oder der Arzt sollte auf verschiedene Gefahren hinweisen, die damit im Zusammenhang stehen. Eine in der Fachzeitschrift Electronic Medical Journal veröffentlichte Studie weist unter anderem auf folgende Auswirkungen hin:
- Verhaltens- und Stimmungsschwankungen: Reizbarkeit, Feindseligkeit, nervöse Erregung, Panikattacken und sogar Aggression.
- Hepatotoxizität: Die Langzeiteinnahme von Antidepressiva kann die Leber schädigen (u. a. ist dies bei Trizyklika und SSRIs der Fall).
Eine klassische Studie, die im Journal of Clinical Psychiatry veröffentlicht wurde, und eine neuere in der Zeitschrift Patients Preference and Adherence publizierte Studie untersuchten die kognitiven und physiologischen Auswirkungen von Langzeitbehandlungen. Sie weisen auf folgende Konsequenzen hin:
- Vergesslichkeit
- Schläfrigkeit
- Suizidgedanken
- Mangelnde Aufmerksamkeit
- Gewichtszunahme
- Sexuelle Dysfunktion
- Geistige und körperliche Müdigkeit
- Gefühle der Abhängigkeit
- Emotionale Gefühllosigkeit
- Gastrointestinale Probleme
- Schwierigkeiten bei der Wortfindung
- Verlangsamtes Denken (Bradypsychie)
- Anhedonie (Unfähigkeit, positive Gefühle zu empfinden)
Die Nebenwirkungen variieren bei jeder Person.
Eine ältere, in der Zeitschrift Psychotherapy und Psychosomatics erschienene Studie erinnert daran, dass die Langzeiteinnahme von Antidepressiva zu einer erhöhten Anfälligkeit für Depressionen oder Dysphorie führen kann.
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Entzug nach der Langzeiteinnahme von Antidepressiva
Wie bereits erwähnt, machen einige Antidepressiva, wie z. B. Fluoxetin, süchtig. Nach mehr als zwei Jahren sollten diese Medikamente (zumindest vorübergehend) abgesetzt werden. Ein Entzugssyndrom ist insbesondere bei SSRIs zu erwarten (Renoir, 2013). Mögliche Symptome sind Angstzustände, Schwindel oder grippeähnliche Anzeichen.
Meistens empfiehlt sich deshalb das langsame Absetzen des Medikaments. Es gibt jedoch auch Ausnahmen, unter anderem wenn die Entzugssymptome länger als erwartet anhalten oder wenn es zu einer Wechselwirkung mit einem neuen Medikament kommt.
Wie wirksam ist die Langzeiteinnahme von Antidepressiva?
Schätzungsweise erhalten mehr als 300 Millionen Menschen mit Depressionen und 264 Millionen mit Angststörungen Antidepressiva. Diese Arzneimittel kommen jedoch auch bei vielen anderen Beschwerden wie Migräne oder Epilepsie zum Einsatz. Es handelt sich zweifellos um eine lukrative Industrie – doch halten diese Medikamente, was sie versprechen?
Eine in der Zeitschrift Clinical Neuroscience veröffentlichte Übersichtsstudie sowie andere Untersuchungen ergeben keine eindeutige Antwort auf diese Frage. Darin heißt es: “ 60 bis 70 Prozent der Patienten erleben keine Remission, während 30 bis 40 Prozent keine signifikante Reaktion” auf depressive Symptome zeigen.
Andererseits dürfen wir nicht vergessen, dass Rückfälle ein weiteres Problem darstellen. Eine in der Zeitschrift Clinical Psychology Review publizierte Studie berichtet, dass 50 Prozent der Personen, die nach einer Depression einen Rückfall erleiden, anfällig für einen zweiten sind, und 80 % derjenigen, die zweimal einen Rückfall erleiden, haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, ein drittes Mal rückfällig zu werden. Deswegen werden Antidepressiva in der Regel intermittierend und nicht kontinuierlich eingesetzt.
Diese Informationen bedeuten jedoch nicht, dass die Einnahme von Antidepressiva rundweg abgelehnt werden sollte. Ihre Wirksamkeit wird noch immer erforscht, außerdem gibt es Fälle, die unbedingt eine chronische Behandlung benötigen. Du solltest dich auf jeden Fall von deiner Fachärztin oder deinem Facharzt umfassend informieren lassen und nach Bedarf eine zweite Meinung einholen.
Multidisziplinäre Behandlung von Depressionen
Die Langzeiteinnahme von Antidepressiva ist ein wiederkehrendes Thema, denn auch Experten sind sich nicht einig. Es sollte mit diesen Medikamenten keinesfalls leichtsinnig umgegangen werden, da sie unerwünschte Auswirkungen haben könnten. Außerdem müssen wir berücksichtigen, dass sie nicht heilen und deshalb unbedingt zusätzliche Maßnahmen erforderlich sind.
In Kombination mit einer medikamentösen Behandlung ist auf jeden Fall eine Psychotherapie zu empfehlen. Ferner sind präventive Maßnahmen entscheidend, damit es gar nicht erst so weit kommt.
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