Komplimente sind Winde, die uns niederzureißen drohen
Je älter wir werden, desto unabhängiger werden wir. Im Laufe einiger Monate lernen wir, uns krabbelnd fortzubewegen. Mit zehn Jahren können wir uns schon ganz allein durch die Welt bewegen. Und wir verlassen das Zuhause, in dem wir aufgewachsen sind, wenn wir eine Arbeit haben, die das zulässt. Das Leben ist ein kontinuierlicher Prozess. Auf unserem Weg lernen wir und übernehmen Verantwortung. Und im Laufe dieses Lebens sammeln wir jede Menge Komplimente, aber auch Sorgen.
Aber egal, wie weit wir uns auf dem Pfad der Unabhängigkeit bewegen, werden wir eine Sache niemals ganz los – den Einfluss, den andere Menschen auf uns haben. Dieser Einfluss ist mitunter selbstverständlich Teil unseres Lebens, wenn uns beispielsweise unser Chef eine Aufgabe überträgt. Er kann aber auch subtiler ausgeübt werden, wenn uns selbiger Chef etwa eine ganze Reihe von Komplimenten macht, um uns zu motivieren und unser Verhalten zu bestärken.
Daniels Geschichte
Eines Tages kam Daniel völlig niedergeschlagen aus der Schule. Als seine Mutter sein Gesicht sah, fragte sie ihn, was denn los sei. Daniel berichtete traurig, dass seine Mitschüler ihn als nutzlos bezeichnet hätten. Er hatte die Aufgabe, die der Lehrer an die Tafel geschrieben hatte, nicht lösen können.
Seine Mutter sagte, sie würden eine Runde im Kiefernwald in der Nähe des Hauses spazieren gehen. Dann sollte er sich einen Kiefernzapfen aussuchen und ihm alles Schlechte mitteilen, was ihm einfiel. Das Kind sah sie entgeistert an. Als sie später aber im Wald waren – Daniel ging ein Stück hinter seiner Mutter – hob er aber doch einen Kiefernzapfen vom Boden auf und beschimpfte ihn auf das Übelste, was wir hier nicht wiederholen möchten.
Beim Abendessen fragte ihn die Mutter, ob er mit dem Kiefernzapfen gesprochen habe. Seine Mutter sagte, am nächsten Tag solle er wieder einen Kiefernzapfen aufheben, ihm aber diesmal alle Komplimente machen, die ihm einfielen. Natürlich tat Daniel, was seine Mutter ihm aufgetragen hatte, und am Abend fragte sie ihn auch danach.
Genauer gesagt fragte sie ihn, ob er an dem einen oder anderen Tag irgendwelche Veränderungen an dem Kiefernzapfen bemerkt hatte, nachdem er mit ihnen gesprochen hatte. Der Junge antwortete, dass er keine Unterschiede bemerkt habe.
Seine Mutter erklärte ihm, dass es das Gleiche mit den Menschen sei. Weder Demütigungen noch Schmeicheleien änderten etwas daran, wer wir seien. Außerdem sagte sie, dass wir einen grundlegenden Vorteil den Kiefernzapfen gegenüber hätten – nämlich, dass wir dazulernen können.
Wir sind wie Daniel
Wir waren alle schon viele Male Daniel und werden es noch viele Male sein. Denn die Worte, die andere Menschen zu uns sagen, dringen in uns ein und hinterlassen ihre Spuren. Höchstwahrscheinlich können wir das nicht verhindern, aber wir können versuchen, die Botschaften, die wir erhalten, aus der Perspektive zu betrachten, die sie verdient haben.
Denn wenn jemand versucht, aus seiner Sicht heraus ein Bild von uns zu erstellen, ob er uns nun beleidigen möchte oder nicht, ist diese Beschreibung nicht unbedingt zutreffender als irgendeine andere. Tatsächlich hatte sich Daniel wohl nicht nutzlos gefühlt, bevor er die negativen Botschaften seiner Klassenkameraden erhalten hatte, obwohl er die Aufgabe nicht hatte lösen können.
Wenn wir mit Botschaften dieser Art konfrontiert werden, ist es immer eine gute Idee, in unserem inneren Dialog eine Frage aufzuwerfen. Warum sollten die Kriterien und das Urteil von anderen mehr wert sein als das, was von uns selbst ausgeht?
Mache dir bewusst, dass die anderen nur einen Teil des Tages mit dir verbringen und nur einen Bruchteil dessen kennen, was du denkst oder tust. Denke daran, dass die Person, die dir heute schmeichelt, diejenige sein kann, die dich morgen beleidigt. Dasselbe gilt natürlich auch andersherum.
Sei nicht das Schiff, dass auf die Wellen der Komplimente angewiesen ist. Und auch kein Blatt, dass im Wind der Schmeichelei umhertreibt. Ziehe wichtige Informationen aus dem, was die Menschen dir sage, aber wenn es um das Sein geht, um dein eigenes Dasein, dann hast du das letzte Wort.
Du verfügst über eine große Macht. Gib sie nicht in die Hände anderer. Und wenn du es doch jemals tun solltest, dann gib sie in die Hände derer, die dich wahrhaftig zu schätzen wissen.