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Gefangen in der Opferrolle: Ursachen und Auswege

6 Minuten
Die Opferrolle beschreibt eine innere Haltung, bei der man sich selbst dauerhaft als machtlos und vom Leben ungerecht behandelt sieht.
Gefangen in der Opferrolle: Ursachen und Auswege
Geschrieben von Redaktionsteam
Letzte Aktualisierung: 16. Juli 2025

Beschwerst du dich oft darüber, wie ungerecht das Leben ist? Oder kennst du jemanden, der die Opferrolle so sehr verinnerlicht hat, dass sich jedes Gespräch nur um seine Sorgen dreht? Die chronische Opferrolle betrifft viele Menschen und damit zu leben, kann extrem anstrengend sein – sowohl für Betroffene als auch für ihr Umfeld.

Aus psychosozialer Sicht ist dieses Verhaltensmuster oft weniger eine bewusste Manipulation als vielmehr eine emotionale Reaktion auf mangelnde Zuneigung. Menschen, die in dieser Rolle verharren, glauben häufig, keine Kontrolle über ihre Schwierigkeiten zu haben. Dadurch fällt es ihnen schwer, eigene Fehler zu erkennen oder aktiv etwas zu verändern.

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Doch warum fühlen sich manche Menschen überhaupt so oft als Opfer? Psychischer Missbrauch, Mobbing oder ein familiäres Umfeld, in dem Leiden als Weg zu Nähe verstanden wird, können Gründe sein. Lass uns einige möglichen Ursachen genauer anschauen:

1. Kindheitserlebnisse

Studien, unter anderem veröffentlicht in Personality and Individual Differences, zeigen, dass die Tendenz zur Opferrolle oft in der Kindheit wurzelt. Besonders wenn Bezugspersonen inkonsistent reagieren oder ein Umfeld von Verlassenheit und emotionalem Schmerz herrscht, entwickeln Kinder die Wahrnehmung, die Welt sei eine ständige Bedrohung. So entsteht häufig ein Muster, das von einem tiefen Bedürfnis nach Anerkennung und einem Mangel an Empathie geprägt ist.

2. Missbrauch in der Familie oder Mobbing in der Schule

Verbalem oder körperlichem Missbrauch in der Familie sowie Mobbing in der Schule begegnen viele Betroffene mit einem Gefühl der Hilflosigkeit, das sie oft bis ins Erwachsenenalter begleitet. Laut einer in Development and Psychopathology veröffentlichten Studie neigen gemobbte Kinder eher zu sozialen Ängsten und reagieren defensiv. Die dauerhafte Opferrolle wird so auch zu einem Schutzmechanismus, der vor weiterem emotionalem Schmerz bewahren soll.

3. Geringes Selbstwertgefühl

Wer wenig Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten hat, dem fällt es schwer, Verantwortung zu übernehmen und Herausforderungen anzunehmen. Ein schwaches Selbstwertgefühl lässt dich schnell minderwertig oder unfähig fühlen und bringt dich dazu, ständig nach externer Bestätigung zu suchen. Doch die Kontrolle über dein Leben zurückzugewinnen und die Opfermentalität hinter dir zu lassen, ist ein entscheidender Schritt, um aus dem Teufelskreis von Selbstmitleid auszubrechen und deine Ziele zu verfolgen.

4. Das Bedürfnis nach Bestätigung

Menschen, die in der Opferrolle verharren, sehnen sich danach, gehört und verstanden zu werden. Sie suchen Aufmerksamkeit, damit ihr Leid anerkannt wird. Dieses Verlangen nach externer Bestätigung gibt ihnen kurzfristig Trost – aber langfristig verfestigen sie damit ihre Opferhaltung. Sie möchten, dass andere sagen: „Du hast Recht, das ist wirklich schlimm.“

5. Die Vorteile der Opferrolle

Wer das Opfer spielt, kennt die Mechanismen dahinter genau. Durch das Erzählen ihrer Geschichten gewinnen sie Sympathie und emotionale Nähe. Die Opferrolle bringt verschiedene Vorteile: Trost, Aufmerksamkeit und vor allem die Möglichkeit, Verantwortung zu umgehen.

„Opfer zu sein ist eine gute Ausrede, um die schwierigen Probleme des Lebens nicht hinterfragen zu müssen. Wir bleiben passiv, übernehmen keine Verantwortung für unser Handeln und schieben die Schuld auf andere.“

Manfred FR Kets de Vries

Merkmale von Menschen in der chronischen Opferrolle

Im Gegensatz zur gelegentlichen Opferrolle, die jeder mal in unfairen Situationen erlebt, ist die chronische Opferrolle eine Art, die Welt zu sehen und mit anderen umzugehen. Es ist, als würdest du einen negativen Filter über dein Leben legen, durch den nichts mehr richtig erscheint und immer ein Grund zum Klagen da ist. Hier sind einige typische Einstellungen, die dieses Muster ausmachen:

Ständige Beschwerden

Menschen mit chronischer Opferrolle kennen weder Glück noch inneren Frieden. Sie konzentrieren sich vor allem auf die negativen Seiten, um ihr Unwohlsein auszudrücken oder Aufmerksamkeit zu bekommen. Doch anstatt nach Lösungen zu suchen, heben sie ihre schlechten Erfahrungen immer wieder hervor:

  • „Mir passieren immer nur schlimme Dinge.“
  • „Es interessiert niemanden, was mit mir passiert.“
  • „Ich habe alles Schlechte verdient, das mir widerfährt.“
  • „Ich muss akzeptieren, dass mein Leben voller Unglück ist.“
  • „Ich wurde nicht geboren, um glücklich, erfolgreich oder geliebt zu werden.“
  • „Ich kann nichts daran ändern, was passiert.“

Übermäßiges Selbstmitleid

Durch ihre Vergangenheit fühlen sich Menschen in der Opferrolle oft hilflos angesichts der Härten des Lebens. Sie wünschen sich vor allem Mitgefühl und Hilfe von anderen, statt selbst Verantwortung zu übernehmen. Das kann dazu führen, dass sie in ein tiefes Loch aus Pessimismus fallen, sich festgefahren und machtlos fühlen.

Mangelnde Eigenverantwortung

Tritt ein Konflikt oder eine unangenehme Situation auf, neigen Menschen in der Opferrolle dazu, sofort anderen oder dem Schicksal die Schuld zu geben. Sich selbst zu hinterfragen oder Verantwortung für das eigene Verhalten zu übernehmen, fällt ihnen schwer.

Es ist leichter zu sagen: „Das ist nicht meine Schuld“ oder „Wenn er das nicht getan hätte, wäre alles anders“, als den eigenen Anteil an Verantwortung anzuerkennen. Langfristig ist diese Haltung schädlich, weil sie als Rechtfertigung dient, Verpflichtungen zu ignorieren.

Schwierigkeiten, Kritik anzunehmen

Wenn Betroffene von ihrem Unglück erzählen, sehen sie jede Kritik sofort als Angriff. Sie empfinden Meinungen anderer nicht als hilfreiche Rückmeldung, sondern fühlen sich verletzt.

Wenn ein Freund zum Beispiel sagt: „Vielleicht hättest du anders reagieren können“, lautet die typische Antwort oft: „Natürlich, jetzt bin ich schuld“ oder „Du kannst dich nie in meine Lage versetzen.“ Diese Haltung blockiert Lernprozesse und führt zu unnötigen Konflikten.

Konfliktreiche Beziehungen

Es ist herausfordernd, mit jemandem umzugehen, der durch Traumata oder emotionale Vernachlässigung dauerhaft in der Opferrolle steckt. Das Zusammenleben mit einer Person, die sich ständig über alles beklagt und keine Verantwortung übernimmt, ist anstrengend – besonders wenn Hilfsangebote mit Beschwerden oder Vorwürfen beantwortet werden.

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Tipps für den Umgang mit jemandem, der sich ständig als Opfer sieht

Du hast sicher schon jemanden in deinem Umfeld erkannt – ob Freund oder Familienmitglied – der immer wieder die Opferrolle einnimmt. Es kann wirklich anstrengend sein, sich immer wieder dieselben Klagen anzuhören. Doch statt mit Sarkasmus oder aus dem Impuls heraus zu reagieren, gibt es einfühlsamere und konstruktivere Wege, mit der Situation umzugehen, ohne ein zusätzliches Drama zu verursachen:

  • Übernimm dich nicht: Du musst nicht jedes Detail wissen oder dich in Dinge einmischen, die dich eigentlich nichts angehen. Zeig Mitgefühl, aber bleib klar bei dir und halte gesunde Grenzen.

  • Erinnere die Person daran, dass sie stark ist: Statt sie weiter in ihrer Opferrolle zu bestätigen, erinnere sie daran, dass sie die Kraft und die Fähigkeiten hat, ihre Schwierigkeiten selbst zu meistern.

  • Lenke das Gespräch behutsam um: Wenn das Gespräch mal wieder bei den ewigen Problemen landet, versuch, das Thema sanft in eine andere Richtung zu lenken – ohne dabei unhöflich zu wirken.

  • Spiele nicht den Retter: Für jemanden da zu sein, ist wichtig und ein Zeichen echter Freundschaft. Aber wenn du immer wieder nur gibst und dich dabei selbst verlierst, kostet dich das auf Dauer zu viel Energie.

  • Schlage professionelle Hilfe vor: Wenn das ständige Klagen zur Belastung wird und du das Gefühl hast, dass dein Gegenüber alleine nicht weiterkommt, ermutige die Person liebevoll, psychologische Unterstützung in Anspruch zu nehmen.

  • Übernimm Verantwortung für dich selbst: Vielleicht erkennst du dich selbst in der Opferrolle wieder. Wenn du das ändern möchtest, fang an, aktiv deine Situation zu gestalten und dein Selbstwertgefühl zu stärken.

Der Weg aus der Opferrolle ist möglich

Wenn du dein Leben ständig durch einen Schleier aus Pessimismus und Negativität betrachtest, übersiehst du oft dein eigenes Potenzial. Auch wenn es nicht immer einfach ist, sich von dieser Haltung zu lösen: Eine Veränderung der eigenen Denkweise und das Stärken deines Selbstwertgefühls sind erste, wichtige Schritte hin zu einem erfüllteren und leichteren Leben. Lass nicht zu, dass die Opferrolle dich daran hindert, deinen eigenen Wert zu sehen.


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