Die seltsame Stadt der Zwillinge
Zwillingsgeburten sind normalerweise eher selten. Im Schnitt kommen nur bei einer von 250 Geburten Zwillinge zur Welt. In einer brasilianischen Gemeinde namens Cândido Godói im Bundesstaat Rio Grande do Sul sie das aber anders aus: Sie hat jedoch weltweit die höchste Quote an Zwillingsgeburten. Woran liegt das?
Wenn du die Stadt der Zwillinge betrittst, siehst du ein Willkommensschild mit der Aufschrift “Cândido Godói – Das Land der Zwillinge”. Weltweit kennen die Menschen diese Stadt als die “Zwillingshauptstadt der Welt”. Das ist damit zu begründen, dass dort jede zehnte Frau Zwillinge bekommt.
Cândido Godói: Die Stadt der Zwillinge
Diese Stadt der Zwillinge liegt in einer abgelegenen südlichen Gemeinde Brasiliens mit ca. 6.500 Einwohnern. Die Stadt liegt im Bundesstaat Rio Grande do Sul, an der Grenze zu Argentinien. Zur Zeit leben 90 Zwillinge in der Stadt. allein 44 davon in der Gegend von Linha São Pedro. Zwischen 1959 und 2014 waren 35 % der Geburten in Cândido Godói Zwillingsgeburten.
In dieser Stadt bringt jede zehnte schwangere Frau Zwillinge zur Welt. Eine andere Sache, die an dieser brasilianischen Stadt und ihren Zwillingen auffällt, ist, dass die meisten der eineiigen Zwillingsgeschwister blond und blauäugig sind.
Die Bewohner von Cândido Godói sind sich dieser Seltsamkeit durchaus bewusst. Sie veranstalten jedes Jahr ein Zwillingsfest, bei dem sie alle Zwillinge aus der Region zusammenbringen. Die Bürger selbst können sich jedoch nicht erklären, was in ihrer eigenen Stadt los ist. Einige meinen, die erhöhte Zwillingsrate könnte auf die unsachgemäße Nutzung der Kernenergie zurückzuführen sein. Andere glauben, es befände sich etwas im Wasser, was dafür verantwortlich wäre. Wieder andere halten die Theorie für möglich, dass ein gewisser „außerirdischer Einfluss“ involviert sein könnte. Derzeit gelten zwei Theorien als mehr oder weniger vernünftig: Eine davon beinhaltet die Experimente eines berühmt-berüchtigten Arztes und die andere basiert auf einer genetischen Theorie, die als Gründereffekt bezeichnet wird.
Hypothese 1: Die Versuche des nationalsozialistischen Arztes
Diese Hypothese beruht auf der Untersuchung des argentinischen Historikers und Journalisten Jorge Camarasa. Seine Erkenntnisse sind in Mengele: el ángel de la muerte en Sudamérica (zu Deutsch: Mengele: Der Engel des Todes in Südamerika, noch nicht auf Deutsch verfügbar) zusammengefasst. Das Buch beschreibt in den 1960er Jahren vom nationalsozialistischen Arzt Josef Mengele durchgeführten Versuche. Konkret geht es um Experimente in Brasilien, die er nach seiner Flucht nach Lateinamerika realisierte.
Mengele war zuvor für das Konzentrationslager Auschwitz zuständig. Dort benutzte er vor allem Juden als Versuchskaninchen für seine abscheulichen Experimente. Sein Ziel war es, die angebliche Überlegenheit der arischen Rasse zu beweisen. Aufgrund seiner Grausamkeiten erinnern sich die Menschen heute noch an ihn als den Engel des Todes.
Schon in Deutschland schien Mengele besessen von eineiigen und zweieiigen Zwillingen. Er hielt es für notwendig, das Geheimnis hinter der mehrfachen Geburt zu entdecken, um die Bevölkerung der arischen Rasse zu vergrößern.
Er hat aus dieser kleinen Stadt ein menschliches Laboratorium gemacht. Seit seiner Ankunft im Jahr 1961 stieg die Zahl der Zwillingsgeburten in Cândido Godói. Einige Zeugen sagen, dass sie sich an seine Zeit dort erinnern könnten. Sie behaupten, dass der Arzt einige der schwangeren Frauen mit fremden Tränken und Injektionen behandelt hätte.
Hypothese 2: Der Gründereffekt
Eine umfassende genetische Studie der Bevölkerung von Cândido Godói zeigte, dass Mengeles Experimente wahrscheinlich nicht der Grund sind, warum dort so viele Zwillinge geboren werden. Die meisten Einwohner der Stadt stammen aus einer kleinen Gruppe von Vorfahren. Dies bedeutet, dass fast alle Einwohner in irgendeiner Weise verwandt sind. Als solche teilen sie viele genetische Eigenschaften.
Experten nennen diesen genetischen Effekt den Gründereffekt und beziehen sich damit auf die Schaffung einer Bevölkerungsgruppe durch eine kleine Anzahl von Individuen. Dies ist in der menschlichen Natur nicht sehr verbreitet. Es gibt jedoch mehrere Beispiele dafür. In einigen Fällen ist es freiwillig und in anderen Fällen unfreiwillig geschehen.
Eines der Gene, welches viele der Bürger von Cândido Godói in einer bestimmten Variante teilen, ist TP53. Unter den Frauen, die Zwillinge zur Welt gebracht haben, trugen die allermeisten dasselbe Allel dieses Gens. Experten verknüpfen dieses Gen mit der Fruchtbarkeit und einer höheren Wahrscheinlichkeit, Zwillinge zu bekommen. Das Gen prädisponiert also für Mehrfachgeburten, ist aber sicher nicht der einzige genetische Einflussfaktor.
Darüber hinaus zeigten historische Studien, dass die hohe Anzahl von Zwillingsgeburten der Ankunft von Mengele vorausgegangen sei. In der Tat ist es auch möglich, dass die Besonderheit der Stadt der Grund war, warum der Arzt sich überhaupt in Cândido Godói niedergelassen hatte.
Als solches kann die Existenz dieser mysteriösen Stadt der Zwillinge nicht durch die vermeintlichen Experimente von Mengele erklärt werden. Die Antwort liegt vielmehr in den biologischen und genetischen Eigenschaften der Bevölkerung.