Das süchtige Gehirn: wie Sucht funktioniert
Man sagt oft, dass in einem süchtigen Gehirn zwischen drei und fünf Menschen oder Kräfte herrschen würden. Es gebe einen Menschen, der nicht mehr Herr über seinen Willen und nur auf der Suche nach Wohlbefinden sei, was seine Sucht erzeuge. Ein anderer wisse bereits, wozu das kurz- und langfristig führt: zu Angst, Depressionen, Abstinenzsyndrom usw. Die anderen „Ichs“ verkörpern die Einsamkeit, das Gewicht des Bewusstseins, die Art der Familie und die Last der Angst des Betroffenen.
Die Präsenz all dieser Stimmen entspricht dabei nicht dem klassischen Profil eines Menschen mit einer multiplen Persönlichkeit. Denn wenn es etwas gibt, das Süchte auszeichnet, dann ist es die Tatsache, dass sie die Identität, das selbstständige Denken und den eigenen Willen einer Person vollständig außer Gefecht setzen. Eine Sucht ist wie ein Einbrecher, der geduldig in einer Ecke lauert, um in das Innere einer Person einzudringen und jeden Bereich und jedes Fragment des Gehirns, ihren Verstand und ihre Würde zu zerstören.
„Ich habe mich selbst davon überzeugt, dass ich aus irgendeinem Grund unverwundbar wäre und nicht süchtig würde. Aber Sucht verhandelt nicht und allmählich verbreitete sie sich in mir wie Nebel.“
Eric Clapton
Manchmal bringen selbst die ausgeklügeltesten Techniken der kognitiven Verhaltenstherapie diesen Eindringling nicht dazu, sich umzudrehen und zu gehen. Eine weitere Strategie zur Rückführung eines süchtigen Gehirns ist daher der medizinische und pharmakologische Ansatz.
Wir sollten uns jedoch auch auf diesen nicht verlassen. Medikamente lindern Entzugserscheinungen und viele damit verbundene Effekte, aber diese neuronalen Verknüpfungen, die eine Sucht sowie bestimmte Denk- und Verhaltensgewohnheiten erzeugen, springen nicht immer auf besagte Behandlungen an. Es ist ein langer und anstrengender Prozess, der eines mehrdimensionalen Ansatzes bedarf.
Dies führt dazu, dass sich viele Menschen mit einer Suchtmittelabhängigkeit oder verhaltensbedingten Abhängigkeit in wahrhaften Sackgassen befinden. Sie stecken in diesen Drehtüren fest, durch die sie hinausgehen und wieder hereinkommen, bis sie eines Tages dank dieser Strategie, diesem Ansatz oder dieser Behandlung, die für jede Person auf der Grundlage ihrer Eigenschaften und Bedürfnisse funktioniert, eine effektive Lösung finden.
Süchtiges Gehirn: Der Zwang, die emotionale Leere zu füllen
Wenn wir über Sucht sprechen, stellen wir uns oft jemanden vor, der Opiate, Halluzinogene oder Designersubstanzen wie Amphetamine konsumiert. Wir vergessen oft, dass eine Sucht viele Gesichter, viele Formen und Verhaltensweisen annehmen kann: Es gibt Menschen, die shoppingsüchtig sind, Menschen, die nicht von ihrem Handy wegkommen. Menschen, die süchtig nach Sex, Sport, Glücksspielen oder bestimmten Lebensmitteln sind.
Ein Süchtiger ist nicht nur ein Alkoholiker oder jemand, der harte Drogen oder chemische Substanzen zu sich nimmt. Es geht im Wesentlichen um unangemessene Verhaltensweisen, bei denen eine Person eine physische und psychische Abhängigkeit von einer Substanz oder von einer bestimmten Handlungsweise zeigt. An diesem Punkt angekommen ergeben sich eine ganze Reihe von möglichen Süchten, bei denen das Ergebnis immer das gleiche ist: die Unfähigkeit, ein normales Leben zu führen, eine darunter leidende Gesundheit und ein leidender Mensch.
Was haben alle Suchtprozesse gemeinsam?
Wenn wir uns jetzt fragen, ob es bei allen Süchten eine Gemeinsamkeit gibt, können wir sagen, dass es zumindest den Anschein hat. Auf der Vierten Internationalen Konferenz über Verhaltensabhängigkeiten im vergangenen Jahr in Budapest (Ungarn=, die von der medizinischen Fachzeitschrift Journal of Behavioral Addictions gefördert wurde, wurde geschlussfolgert, dass der gemeinsame Nenner in allen Fällen ein Zwang sei.
Naomi Fineberg, Psychiaterin und Neuropharmakologin des University NHS Foundation Trust in Hertfordshire (England, Vereinigtes Königreich), erklärte, dass Menschen mit einer Sucht eine Zwangsstörung, geringe kognitive Flexibilität und eingeschränkte oder gar keine persönlichen Ziele haben. Das süchtige Gehirn zeige bestimmte Veränderungen in den ventralen Regionen des präfrontalen Kortex, also in einem Gehirnareal, das mit unserer Gefühlswelt und unserer Fähigkeit zur Kontrolle zusammenhänge.
Daher kommen die meisten Neurologen und Suchtspezialisten zum Schluss, dass Menschen, die von einer Substanz oder einem Verhalten abhängig sind, mit ihrer Abhängigkeit ein emotionales Bedürfnis stillen. Bei ihrem Vorhaben, diese Lücke zu füllen, entwickeln sie jedoch zwanghafte Verhaltensweisen, die das Gehirn nicht reduzieren kann und auf die sie immer wieder zurückgreifen.
Der neurologische Mechanismus einer Sucht
Das süchtige Gehirn funktioniert anders als das gesunde Gehirn. Sein einziges Ziel, sein vorrangiges Bedürfnis ist es, das Wohlbefinden zu erreichen, das es durch den Konsum einer Substanz oder durch die Anwendung eines Verhaltens erlangt. Diese Substanz oder dieses Verhalten erzeugen allerdings nur ein momentanes und begrenztes Wohlergehen. Allmählich ersetzt dieses externe „Stimulans“ die körpereigenen, natürlichen Belohnungen, und das Gehirn verlangt nach mehr.
- Der Einfluss von Dopamin ist im Suchtprozess der Schlüssel zum Erfolg. Der Grund dafür? Dopamin erzeugt Angst und ein Verlangen nach etwas. Dopamin motiviert weitere Gehirnregionen, sodass sie sich an der gleichen Ursache und dem gleichen Bedürfnis orientieren. Das Striatum zum Beispiel ist das erste Areal, das in Gang gesetzt wird, und Strukturen wie das Mittelhirn und die Orbitalrinde aktiviert. Das ganze Gehirn versteht, dass diese Substanz, dieses Verhalten eine Priorität ist und konzentriert sich auf dieses einzige Ziel.
- Im Allgemeinen erzeugen alle Drogen mit Suchtpotenzial schwerwiegende Veränderungen, was die Aktivität des mesocorticolimbischen Belohnungssystems anbelangt. Auf diese Weise treten bei regelmäßigem Konsum neuroadaptive und neuroplastische Veränderungen auf, die die Struktur dieses Systems vollständig verändern.
- Der präfrontale Kortex ist eine der am stärksten betroffenen Gehirnregionen. Auch hier werden drastische Veränderungen durch eine Suchterkrankung erzeugt. Unsere Emotionen und deren Regulation sowie unsere kognitiven Prozesse werden verändert. Betroffenen fällt es somit schwer, ihre Aufmerksamkeit auf etwas zu richten, klar zu denken und Entscheidungen zu treffen.
Darüber hinaus gibt es einen Aspekt, den wir nicht vernachlässigen dürfen. Wenn wir von Alkohol- und Drogenkonsum reden, sind die Veränderungen, die auf der zerebralen Ebene hervorgerufen werden, immens, manchmal sogar verheerend. Die Veränderungen im präfrontalen Kortex, in der Amygdala und im Striatum sind sehr ausgeprägt und in vielen Fällen irreversibel.
Handelt es sich bei einer Sucht um eine chronische Krankheit?
Wie wir bereits erwähnt haben, kann ein süchtiges Gehirn manchmal chronische Veränderungen aufweisen. Vergiftungen durch bestimmte Substanzen beeinträchtigen das Kurzzeitgedächtnis und die Fähigkeit, neue Informationen zu speichern. Alkohol zum Beispiel hat gravierende Auswirkungen auf das Kleinhirn, was Aspekte wie die motorische Koordination beeinträchtigen kann.
So machten Experten des National Institute on Drug Abuse (USA) wiederholt deutlich, dass eine Sucht im Grunde genommen eine wiederkehrende und chronische Hirnerkrankung sei. Viele Neurologen stellen diese Behauptung jedoch infrage. Was dieser Behauptung zugrunde liegt, ist ein Konzept, das vielen von uns bekannt ist und von dem wir schon bei der einen oder anderen Gelegenheit gehört haben: die Neuroplastizität unseres Gehirns.
Das Gehirn ist nicht wie das Herz, der Magen oder die Bauchspeicheldrüse. Das Gehirn hat ein außergewöhnliches Potenzial: Es ist darauf ausgerichtet, sich zu verändern, neue neuronale Verbindungen herzustellen, zu lernen, sich selbst zu trainieren, um neue Gewebestrukturen und Nervenzellen zu bilden. Wenn sich unser Gehirn nicht ein Leben lang verändern würde, würden wir uns in einem komatösen Zustand befinden. Wir verändern uns und entwickeln stets neue Fähigkeiten. Was bedeutet das aber für ein süchtiges Gehirn?
Im Grunde genommen gibt es Hoffnung. So wie viele Patienten mit Hirnschäden dazu in der Lage sind, bestimmte Aspekte zu verbessern, um ihre Lebensqualität zu steigern, kann das Gleiche auch bei Menschen mit einer Sucht geschehen.
Im Wesentlichen geht es darum, neue synaptische Verbindungen zu erzeugen, die auf neuen Verhaltensweisen und Gedanken basieren. Ein Silberstreif am Horizont, dem man bereits in vielen Kliniken und Rehabilitationszentren mit guten Erfolgsraten anstrebt. Die Wissenschaft und das Wissen über das menschliche Gehirn entwickeln sich ständig weiter, was es einfacher macht, bessere Antworten auf sämtliche Arten von Bedürfnissen zu finden, auch auf die von Süchtigen.