Das Hyperempathie-Syndrom: zu viel des Guten
Es ist, als hätten Menschen, die am Hyperempathie-Syndrom leiden, lange Antennen, die jede Emotion aufnehmen, welche um sie herum vibriert. Aber am Ende verlieren sie sich in den Bedürfnissen anderer Menschen und vergiften sich mit zu viel Mitgefühl. Sie fühlen sich sogar schuldig am Schmerz, den andere erfahren. Das ist für sie selbst sehr schmerzhaft und anstrengend.
Vielleicht bist du überrascht, dass das ein Syndrom ist. Schießen wir über das Ziel hinaus, indem wir scheinbar normales, ja erwünschtes Verhalten als pathologisch bezeichnen? Die Antwort auf diese Frage ist nein. Im Diagnostischen und statistischen Leitfaden psychischer Störungen, 5. Edition, wird Hyperempathie deshalb als Symptom von Persönlichkeitsstörungen aufgeführt.
„Wahrnehmen ist Leiden.”
Aristoteles
Menschen mit zu viel Einfühlungsvermögen oder Hyperempathie, die in ihrem Empfinden und Verhalten Muster von Bedrängnis und Unfähigkeit zur Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen aufweisen, zeigen also Anzeichen einer Persönlichkeitsstörung. Und als Zustand, welcher die Beziehung zu anderen Menschen erschwert, Leiden verursacht und uns daran hindert, ein normales Leben zu führen, verdient das Hyperempathie-Syndrom unsere Aufmerksamkeit und möglicherweise eine Behandlung. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, zu betonen, dass ein Unterschied zwischen empfindlichen Personen und denjenigen mit Hyperempathie-Syndrom besteht.
In dem interessanten Buch Women Who Love Psychopaths (zu Deutsch: Frauen, die Psychopathen lieben, nicht auf Deutsch verfügbar) spricht die Psychiaterin Sandra L. Brown darüber, wie viele Frauen das psychopathische Verhalten ihrer Partner nicht nur verstehen, sondern sogar rechtfertigen. Mit anderen Worten, ihr übermäßiges Einfühlungsvermögen hindert sie völlig daran, das Raubtier vor sich zu sehen. Tatsächlich nutzen sie unglaublich raffinierte Methoden, um die Gewalttaten ihrer Partner zu verteidigen. Dies ist ein klarer Beweis dafür, dass das Hyperempathie-Syndrom eine Erkrankung ist, über die man nachdenken und sprechen sollte, weil sie die physische und psychische Integrität Betroffener gefährdet.
Empathie und Hyperempathie – der schmale Grat zwischen Gleichgewicht und Pathologie
Wenn Empathie ein positives, nützliches und wünschenswertes Attribut ist, dann denkst du vielleicht, es sei nichts falsch daran, „zu viel” davon zu haben. Aber wie so oft im Leben ist Überschuss nicht gut, und am besten ist es, ein gesundes Gleichgewicht zwischen Ich-Bezogenheit und Empathie zu finden.
Hyperempathie beeinträchtigt die Fähigkeit Betroffener, sich von anderen Menschen zu lösen. Empathie dagegen bedeutet, sich in die Lage eines anderen versetzen zu können. Dabei gilt es, zu präzisieren, dass man als empathischer Mensch nie aufhört, man selbst zu sein.
Es ist auch wichtig, die verschiedenen Arten von Empathie zu kennen, die man erfahren mag, welche gesund sind und welche in Pathologien übergehen können.
- Affektive Empathie: Sie hat mit der Fähigkeit zu tun, Emotionen und Gefühle zu spüren, die jemand anderes erlebt. Wer affektive Empathie verspürt, fühlt, wie andere sich fühlen.
- Kognitive Empathie: Diese erlaubt dir, zu verstehen, was im Kopf der anderen Person vorgeht. Wer kognitive Empathie verspürt, versteht, wie andere sich fühlen.
- Übermäßiges Einfühlungsvermögen oder Hyperempathie: Hierbei geht es darum, sowohl Spiegel als auch Schwamm zu sein. Betroffene fühlen nicht nur, was andere fühlen, sondern leiden auch darunter. Sie empfinden körperlichen Schmerz, der Angst verursacht und sie den Bedürfnissen anderer unterwirft. Betroffene erkennen nicht, wo sie aufhören und wo andere beginnen.
Welche Symptome kennzeichnen das Hyperempathie-Syndrom?
Im Folgenden beschreiben wir die Charakteristika von Menschen mit einem Hyperempathie-Syndrom, damit du zwischen erhöhter Sensibilität und pathologischer Überempfindlichkeit unterscheiden kannst:
- Betroffene erfahren einen Verlust ihrer Identität und ihrer sozialen Fähigkeiten.
- Sie sind geduldig und abhängig. Sie brauchen ständige Interaktion und validieren sich selbst, indem sie anderen Gefallen tun. Wenn jemand versucht, ihnen Grenzen zu setzen, fühlen sie sich verletzt und zurückgewiesen. Sie wollen die Probleme aller lösen, um sich wertvoll und gebraucht fühlen.
- Dabei sind sie oft überfürsorglich und untergraben die Autonomie anderer Menschen.
- Ihr übermäßiges Einfühlungsvermögen macht es ihnen schwer, bei der Arbeit produktiv zu sein. Sie haben das Gefühl, dass niemand ihren Altruismus verstehe, ihr Bedürfnis, andere zu unterstützen und ihnen zu helfen.
- Sie neigen deshalb dazu, Stimmungsschwankungen zu haben, die von tiefer Depression bis hin zu histrionischem, ungezügelten Glück reichen.
- Aus Hyperempathie wird dann zuweilen Ablehnung und Frust. Sie erleben so viel Enttäuschung, dass sie sich am Ende selbst isolieren, in Wut und Verzweiflung versinken.
- Es passiert häufig, dass sie Zwangsstörungen und Psychosen entwickeln.
Was kann man tun, wenn man am Hyperempathie-Syndrom leidet?
An diesem Punkt wundern sich einige Leser vielleicht darüber, dass jemand so sehr leiden kann, wenn er die Emotionen anderer Menschen aufnimmt. Nun, es hat in den letzten Jahren viele Fortschritte in diesem Bereich gegeben. Tatsächlich werden täglich neue Erkenntnisse zu den genetischen und neurochemischen Grundlagen der Hyperempathie veröffentlicht. Die Forscher lernen auch viel von Autismus-Spektrum-Störungen wie dem Asperger-Syndrom, die sich durch einen Mangel an Empathie kennzeichnen. Es ist ein interessantes Thema, in dem allerdings noch viele Fragen offen sind.
Wenn du am Hyperempathie-Syndrom oder an erhöhter Sensibilität leidest, dann suche professionelle Hilfe. Egal, wie stark deine Hyperempathie ausgeprägt ist, es ist immer eine gute Idee, Techniken zu erlernen, die dir helfen können, Grenzen zu setzen, mehr Kontrolle über deine eigenen Gedanken zu erlangen, sich besser um deine Bedürfnisse zu kümmern, dein Selbstwertgefühl zu stärken und deine Identität zu definieren.
Vergiss nicht, dass exzessives Einfühlungsvermögen dich nicht nur verärgert. Es trennt dich auch vom Rest der Welt. Es lohnt sich nicht, sich an einen Zustand der anhaltenden Leere und Qualen zu klammern. Mach den ersten Schritt und lass dir helfen.