Das Gerstmann-Syndrom: Ich kann meine Finger nicht mehr erkennen
Beim Gerstmann-Syndrom handelt es sich um eine seltene neurologische Krankheit. Die bekannteste Tatsache über das Gerstmann-Syndrom ist auch gleichzeitig das auffallendste Kennzeichen dafür: Der Patient kann seine Finger nicht mehr erkennen. Allerdings steckt hinter diesem Symptom eine viel komplexere und erworbene Krankheit. Das bedeutet, dass die Symptome auftauchen, nachdem man eine Verletzung erlitten hat oder unter einer Krankheit leiden musste.
Die Erkrankung wurde nach dem österreichischen Neurologen und Psychiater Dr. Josef Gerstmann benannt, der zum Entdeckungszeitpunkt 1924 noch als Assistent in der Abteilung Neurologie an der Universität Wien arbeitete. Damals beschrieb er eine Anzahl von Symptomen bei einer Frau, die einen Schlaganfall erlitten hatte. Von diesem Zeitpunkt an trug die Erkrankung seinen Namen. Dazu gehören die Finger- und Zehen-Agnosie, die Agraphie und die Akalkulie.
Die Ursachen für das Gerstmann-Syndrom
Zunächst sollten wir anmerken, dass sich die meisten bekannten Fälle aus einem gefäßbedingten Problem entwickeln. Ein derartiges Problem scheint auch die Hauptursache für das Gerstmann-Syndrom zu sein. Typischerweise hat der Patient bei diesem Syndrom Schwierigkeiten, die eigenen Zehen und Finger zu erkennen oder zu bewegen. Für gewöhnlich treten folgende Symptome dabei auf:
- Zunächst die Finger- und Zehen-Agnosie. Dem Patienten ist es nicht möglich, die eigenen Zehen und Finger zu erkennen. Er verhält sich, als habe er keine Finger.
- Agraphie. Zusammen mit dem ersten Symptom auf der Liste verlieren die Patienten die Fähigkeit, sich schriftlich auszudrücken.
- Akalkulie. Patienten, die am Gerstmann-Syndrom leiden, verlieren die Fähigkeit, einfache mathematische Aufgaben zu lösen.
- Schließlich Desorientiertheit. Der Patient ist nicht in der Lage, sich im Raum korrekt zu orientieren und verwechselt oder erkennt den Unterschied zwischen rechts und links nicht.
Läsion des Hirngewebes beim Gerstmann-Syndrom
Im Jahre 1930 vollendete Dr. Josef Gerstmann schließlich die Beschreibung des nach ihm benannten Syndroms, nachdem er die Verletzungen seiner Patienten studiert hatte. Er fand heraus, dass die meisten einen Schaden in einem Teil des Parietallappens, dem Lobulus parietalis inferior erlitten hatten – genauer gesagt im Gyrus angularis.
In der Anatomie des Gehirns werden die Repräsentationen von Körperregionen im Parietallappen als sensorischer bzw. motorischer Homunkulus verstanden – wie im Jasper-Penfield-Schema beschrieben. Im Parietallappen gibt es ein bestimmtes Areal, das auf die Finger spezialisiert ist. Dieser Bereich ist in Proportion zum Rest des Körpers sehr viel größer. Dies liegt an der Wichtigkeit der Hände und der Menge an Nervenenden, die sich in den Händen befinden.
Winkeldrehung
Diese Hirnregion, die vom Gerstmann-Syndrom besonders betroffen ist, sitzt am unteren Ende des Parietallappens. Sie steht in Zusammenhang mit der Auffassung von Sprache, bei der ein gemeinsamer Code für visuelle und gehörte Information zugeordnet wird.
Für gewöhnlich haben Patienten mit dem Gerstmann-Syndrom Gefäßverletzungen in der linken mittleren Hirnarterie, die den Gyrus angularis umspült.
Klinische Merkmale
Wir sollten daher auch klarstellen, dass das Gerstmann-Syndrom häufig nur unvollständig auftritt. Das bedeutet, dass die drei Hauptmerkmale nicht gleichzeitig vorhanden sein müssen, um eine Diagnose zu stellen.
Oftmals gibt es keine Anzeichen für eine Agraphie. Stattdessen tritt häufig eine semantische Aphasie auf. Damit bezeichnet man einen Defekt im Verständnis von logisch-grammatikalischen Strukturen.
Das Gerstmann-Syndrom heutzutage
Da das Gerstmann-Syndrom vor knapp hundert Jahren das erste Mal beschrieben wurde, wurden im Rahmen des wissenschaftlichen Fortschritts viele Einzelsymptome zur Debatte gestellt. Aktuell diskutieren Wissenschaftler die organische Grundlage des Syndroms. Sie schlagen in der Ätiologie des Syndroms, was die Ursachen für das Entstehen einer Krankheit bezeichnet, andere Bereiche im Parietallappen vor.
Die meisten Patienten haben Läsionen im linken Parietallappen. Diese Hirnhälfte hat in den meisten Fällen die Oberhand, wenn es sich um Rechtshänder handelt. Deshalb treten Anomalien auf kortikaler Ebene in Bereichen komplexer Verarbeitungsprozesse auf.
Diagnose
Die medizinischen Disziplinen, die sich mit der Diagnose des Gerstmann-Syndroms befassen, sind die Neurologie und die Neuropsychologie. Verdachtsfälle, dass es sich um dieses Syndrom handeln könne, zeigen sich oft, wenn betroffene Patienten Aufgaben ausführen sollen, bei denen es um Finger- und Zehenerkennung geht.
Auf einer neurologischen Ebene beginnt die Diagnose-Stellung mit explorativem Testen. Anschließend werden die Ärzte die Diagnose unter Verwendung des bildgebenden Verfahrens der Magnetresonanztomographie (MRT) bestätigen. Durch dieses Verfahren lässt sich beschädigtes Gewebe erkennen. Die Neuropsychologie wiederum ist dafür verantwortlich, die eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten durch klinische Betrachtung zu bewerten und zu beurteilen.
Behandlung
Laut den verschiedenen Fachleuten gibt es verschiedene Behandlungsansätze beim Gerstmann-Syndrom. Kurz gesagt ist in allen Fällen eine Kombination aus neurologischer und psychologischer Therapie notwendig.
- Neurologische Behandlung. Dieser Ansatz konzentriert sich auf den organischen Schaden, der mit standardisierten Verfahren behandelt wird. Es hängt davon ab, ob die Ursache bei einem gefäßbedingten Problem zu finden ist oder ob ein Gehirntumor vorliegt.
- Neuropsychologische Behandlung. Dabei arbeitet man an den kognitiven Funktionen, die von der Verletzung betroffen sind. Dazu kommt, dass das Verfahren auf den Patienten zugeschnitten sein muss und verschiedene Fachgebiete umfassen sollte, weil die Symptome variabel sind.
- Psychoerziehung. Sehr wichtig ist es hier, Informationen zu vermitteln und eine Bewusstheit für das Syndrom zu schaffen, damit man an den zugrundeliegenden emotionalen Aspekten arbeiten kann.
Doktoren und Fachleute müssen schließlich mit der Kombination aus neurologischer und neuropsychologischer Behandlung den Fokus darauf legen, dass die Patienten funktional wieder hergestellt werden. Das Hauptaugenmerk sollte darauf liegen, dass die Gliedmaßen wieder optimal funktionieren, ohne dass einzelne Finger oder Zehen ausfallen.
Im Prinzip hat das Gerstmann-Syndrom aufgrund seiner besonderen charakteristischen Merkmale die Aufmerksamkeit von Forschern und Spezialisten auf sich gezogen – obwohl es in der normalen Bevölkerung selten auftritt.
Interessant ist dabei die Tatsache, dass das richtige Funktionieren des Gehirns auch vom richtigen Funktionieren des Gefäßsystems abhängt. Deshalb gefährden alle Aktivitäten, die einen Risikofaktor für das Herz-Kreislauf-System darstellen, auch gleichzeitig das Nervensystem.