Das episodische Zukunftsdenken: eine mentale Zeitreise
Das episodische Gedächtnis speichert persönliche Erlebnisse der Vergangenheit und wird deshalb auch als autobiografisches Gedächtnis bezeichnet. Das gedankliche Wiedererleben vergangener Ereignisse ist die Grundlage für mentale Zeitreisen, die mögliche zukünftige Erlebnisse vorwegnehmen. Diese erfahrungsbasierte Vorstellung der Zukunft wird als episodisches Zukunftsdenken bezeichnet.
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Das episodische Zukunftsdenken
Der von Cristina M. Atance und Daniela K. O’Neill geprägte Begriff lehnt sich an E. Tulvings Konzept des episodischen Gedächtnisses an. Wie anfangs bereits erwähnt, sprechen wir von der Fähigkeit, sich an persönliche, autobiografische Ereignisse zu erinnern und diese wieder ins Gedächtnis zu rufen.
Das episodische Gedächtnis ermöglicht uns außerdem eine Zeitreise in die Zukunft. Es ist grundlegend für die Planung, Entscheidungsfindung und Meinungsbildung. Du benötigst es, um deine Ziele zu erreichen, denn es gibt dir die Fähigkeit, dir ein zukünftiges Ereignis oder eine mögliche Situation vorzustellen.
Während der Planungsphase entstehen mentale Bilder, die du auf die Zukunft projizieren kannst. Die Zeitreise, die sich auf vergangene Erfahrungen stützt, ermöglicht es dir, mögliche zukünftige Erlebnisse gedanklich durchzuspielen. Forschungen haben gezeigt, dass das episodische Gedächtnis und das episodische Zukunftsdenken auf einer gemeinsamen neuronalen Grundlage aufbauen.
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Lian Gar San
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Auch das prospektive Gedächtnis ist eng mit dem episodischen Zukunftsdenken verwandt. Dieses Gedächtnis gibt uns die Fähigkeit, uns selbstständig und zur richtigen Zeit an unsere Pläne zu erinnern, um entsprechend zu handeln. Es erinnert uns zum Beispiel an einen Arzttermin oder ein Prüfungsdatum. Das prospektive Gedächtnis ist also auch auf die Zukunft gerichtet.
Das episodische Zukunftsdenken ist nötig, um einen Handlungsplan zu erstellen. Darüber hinaus erklären Atance und O’Neill, dass es eine wichtige Beziehung zwischen der Fähigkeit gibt, vergangene Erfahrungen mental aufzuarbeiten (episodisches Gedächtnis) und der Fähigkeit, sich Episoden vorzustellen, die man in der Zukunft erleben könnte (episodisches Zukunftsdenken).
Das episodische Zukunftsdenken ist auch eng mit Tulvings Konzept der Selbstwahrnehmung verbunden. Es bezieht sich auf die menschliche Fähigkeit, die eigene Existenz in der subjektiv erlebten Zeit wahrzunehmen und sich selbst ein Bild davon vorzustellen.
Das Selbstbewusstsein, das heißt die Fähigkeit, Bewusstsein über sich selbst zu erlangen, und sich an vergangene autobiografische Ereignisse zu erinnern, ermöglicht es uns, die Vergangenheit auf die Zukunft zu projizieren. Mit anderen Worten: Beide Fähigkeiten sind notwendig, um das episodische Zukunftsdenken in Gang zu setzen sowie Handlungspläne zu entwickeln.
Diese Fähigkeiten sind durch gemeinsame anatomische Funktionen miteinander verknüpft. Forschungen weisen darauf hin, dass ein Netzwerk verschiedener Hirnregionen an diesen Prozessen beteiligt ist, wobei der Frontallappen und der mediale Temporallappen eine besondere Rolle spielen.
Wie entwickelt sich das episodische Zukunftsdenken?
Die Theorie des Geistes ( Theory of Mind oder kurz ToM) beschreibt die Fähigkeiten, die wir benötigen, um Handlungen anderer Menschen vorherzusagen und deren Absichten oder Ziele zu erkennen. Sie ermöglichen es uns, gedanklich in die Zukunft zu blicken.
Kinder, die sich neurotypisch entwickeln, beginnen etwa im Alter von zwei Jahren, das Verständnis ihrer eigenen Geisteszustände und die anderer zu erkennen. Ab einem Alter von ungefähr vier Jahren entwickeln sie zunehmend das episodische Gedächtnis und das episodische Zukunftsdenken.
Ab drei Jahren können sich Kinder eine Vorstellung von der Zukunft machen. Sie beginnen, Wörter zu verwenden, die sich auf zukünftige Ereignisse beziehen. Doch erst im Alter von 12 Jahren begreifen sie wirklich, was dies bedeutet. Die Zukunftsplanung ist eine Fähigkeit, die ab dem dritten bis fünften Lebensjahr entsteht. Anfangs beziehen sich Kinder nur sprachlich auf ihre Wünsche, nicht jedoch auf wirklichkeitsnahe Ziele. Erst im Alter von rund fünf Jahren beginnen sie Pläne zu schmieden und Entscheidungen zu treffen, um bestimmte Ziele zu erreichen.
Das episodische Zukunftsdenken im Zusammenhang mit Psychopathologien
Wie bereits erwähnt, scheinen die Fähigkeiten, die in der Theorie des Geistes beschrieben werden, für das episodische Zukunftsdenken wesentlich zu sein. Patienten mit einer Autismus-Spektrum-Störung haben deshalb oft Schwierigkeiten beim Planen und Vorausdenken.
Dies könnte ebenfalls mit den stereotypen, wiederkehrenden Verhaltensmustern und der mangelnden Flexibilität der Betroffenen im Zusammenhang stehen. Suddendorf & Corballis gehen davon aus, dass Personen mit ASS deshalb Probleme haben, sich die Zukunft vorzustellen.
Studien, in denen autistische Kinder gebeten wurden, vergangene oder zukünftige Ereignisse zu beschreiben, zeigten, dass Kinder mit ASS im Vergleich mit neurotypischen Kindern eine geringere Leistung des episodischen Gedächtnisses und des episodischen Zukunftsdenkens aufweisen.
Darüber hinaus wird das episodische Zukunftsdenken mit anderen Störungen wie Angst und Depression in Verbindung gebracht. Schließlich sind vor allem Patienten mit generalisierter Angststörung durch unspezifisches und negatives Zukunftsdenken gekennzeichnet. Dies führt dazu, dass jede Visualisierung eines Zukunftsszenarios unrealistisch, abstrakt und negativ ist. In der Folge machen sich Betroffene bei unerwarteten Ereignisse stets übermäßige Sorgen.
Alle zitierten Quellen wurden von unserem Team gründlich geprüft, um deren Qualität, Verlässlichkeit, Aktualität und Gültigkeit zu gewährleisten. Die Bibliographie dieses Artikels wurde als zuverlässig und akademisch oder wissenschaftlich präzise angesehen.
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