Wygotski, Lurija, Leontjew: Revolution im Schulsystem
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, nach der sozialistischen Revolution, wurde aus der Opposition gegen den nordamerikanischen Kapitalismus eine neue Schule der Psychologie geboren. Eines der ersten Probleme, die es zu lösen galt, war es, ein neues Schulsystem zu finden, das den aktuellen Anforderungen gerecht werden konnte. Tragende Figuren in der Erschaffung eines neuen, revolutionären Erziehungssystems waren Persönlichkeiten der sowjetischen Psychologie. Ihr Einfluss führte zu einer Revolution im Schulsystem. Die drei Personen hießen:
- Lew Semjonowitsch Wygotski
- Alexander Romanowitsch Lurija
- Alexei Nikolajewitsch Leontjew
Für sie war Bildung ein zentrales Thema. Sie verstanden diese als Werkzeug, das die folgenden Generationen brauchen würden, um die Neugestaltung des Schulsystems, die gerade eingeleitet wurde, weiterzuführen. Heute gelten ihre wissenschaftlichen Studien als äußerst rigorose Vorläufer einer Revolution im Schulsystem. In diesem Artikel werden wir ihre Ansätze untersuchen, indem wir ihre Ideen über Kommunikation, Entwicklung und Bildungsziele betrachten.
Revolution im Schulsystem: Das Kommunikationsmodell
Das erste Problem, das man mit der Bildung in jener Zeit hatte, war der Mangel an Kommunikation im Klassenzimmer. Schüler waren passive Lerner, weil die Kommunikation zwischen Lehrer und Schüler nur in eine Richtung ging. Der Unterricht bestand in einer simplen Weitergabe von Informationen durch den Lehrer an die Schüler. Die Schüler nahmen die Informationen auf, ohne sie zu hinterfragen.
Die drei bereits erwähnten sowjetischen Psychologen kritisierten diese Methoden und schlugen stattdessen einen konstruktivistischen Stil vor. Nach ihrem Modell konstruieren Schüler ihr eigenes Wissen. Anders gesagt, sie werden zu aktiven Protagonisten des Lernprozesses.
Das einseitige Kommunikationsmodell wurde aufgegeben. Der Klassenraum sollte zu einem Raum für Diskussionen werden, in dem die Schüler ihre eigenen Ideen entwickeln konnten. Kommunikation sollte sowohl von Schüler zu Schüler als auch von Schüler zu Lehrer erfolgen, und natürlich immer noch von Lehrer zu Schüler. Beide Parteien sollten zum Zuhören und Sprechen bereit sein.
Die Aufgabe des Lehrers in dieser Art von Klassenraum bestand nicht länger darin, seine allwissende Weisheit zu vermitteln. Vielmehr sollte er die Debatte zwischen den Schülern moderieren und das Lernen fördern. Das ist eine unglaublich schwierige Aufgabe, aber es hat sich schon oft gezeigt, dass die aktive Mitgestaltung den Lernerfolg signifikant erhöht.
Die Bedeutung der Entwicklung
Ein weiteres grundlegendes Problem, das beobachtet wurde, war der Mangel an Klarheit darüber, wie Lernen und Entwicklung miteinander zusammenhängen. Wygotski legte mit seiner Theorie der “Zone der nächsten Entwicklung” den Grundstein für dieses Prinzip. Wygotski schien es absurd, den Lernprozess unabhängig von der kognitiven Entwicklung des Individuums zu betrachten. Er schlug eine Theorie vor, in der sich Entwicklung und Lernen gegenseitig verstärken.
Aber worum genau geht es in dieser Theorie? Bevor wir ins Detail gehen, wollen wir anmerken, dass Menschen zwei Arten von Fähigkeiten haben. Zunächst einmal sind da die Kompetenzen, die wir selbst entwickeln. Und die höheren, die wir durch die Unterstützung eines Tutors erlangen können. Ein Schüler kann beispielsweise eine Reihe mathematischer Fragen selbst beantworten. Wenn er aber die Anleitung eines Lehrers hat, kann er noch schwierigere Probleme lösen.
Wygotskis “Zone der nächsten Entwicklung” zeigt den Unterschied zwischen dem, was eine Person mit Unterstützung tun kann, minus dem, was sie eigenständig zu leisten vermag. Sie bildet den idealen Bereich der Entwicklung ab, in dem ein Schüler arbeiten sollte.
Laut Wygotski bestehe das Ziel der schulischen Bildung darin, die Fähigkeiten innerhalb dieser Zone in Fähigkeiten umzuwandeln, die die Person auch ohne Hilfe meistern kann. Wenn dies geschieht, kann die Person wiederum eine neue Zone betreten und in dieser noch weiterkommen. Der Zyklus aus Lernen und Entwicklung schreitet so immer fort.
Die Ziele der Bildung
Eine der Schlüsselfragen, die die drei revolutionären Führer stellten, war: Was ist das wahre Ziel von Bildung? Sie beobachteten die Welt um sich herum und stellten fest, dass das Ziel der Bildung weit von der Entwicklung des Potenzials der Schüler entfernt lag. Sie kamen zu dem Schluss, dass die Bildungsaufgabe jener Zeit darin bestand, den Menschen gewisse Fähigkeiten zur Arbeit zu vermitteln. Dabei ging es um Fähigkeiten, die in die vom Markt geforderten Positionen passen würden.
Mit anderen Worten, Schulbildung hatte den Zweck, die Menschen auf verschiedene Berufe vorzubereiten. Damit wurde es ihnen ermöglicht, die Quote der jeweiligen Arbeit zu erfüllen. Etwas anders und mit einigen Ausnahmen kann man dieses Prinzip auch in unserem heutigen Schulsystem noch erkennen.
Der damalige, neue Ansatz der Psychologie versucht diese Dynamik zu durchbrechen. Wygotski, Lurija und Leontjew glaubten daran, dass alle Individuen die Möglichkeit haben sollten, ihr maximales intellektuelles Potenzial zu entwickeln.
Das heißt natürlich nicht, dass die Gesellschaft keine Arbeiter mehr benötigte, um sich selbst zu erhalten. In dieser Hinsicht waren sie der Ansicht, dass es für Schüler ideal wäre, direkt am sozioökonomischen Leben teilzunehmen. Sie schlugen vor, dass die Schüler regelmäßig die Schule verlassen sollten, um sich den Arbeiten zuzuwenden, die für eine Aufrechterhaltung der Gesellschaft erforderlich sind.
Schulbildung heute
Es gibt nicht viele Unterschiede zwischen dem heutigen System und dem System, gegen welches diese drei Psychologen aufbegehrt haben. In den meisten Klassenzimmern findet die Kommunikation weiterhin größtenteils von Lehrer zu Schüler statt. Und es wird definitiv nicht die Zone der Entwicklung eines jeden Schülers maximiert.
Das von Wygotski, Lurija und Leontjew vorgeschlagene revolutionäre Schulsystem ist in Vergessenheit geraten. Aber warum ist das so? Weil das Ziel der Bildung weiterhin die Entwicklung des Potenzials des Schülers ausschließt. Unser System versucht, Arbeiter auszubilden, genau so wie Fabriken das Ziel haben, Produkte zu schaffen.
Wenn wir als Gesellschaft wirklich voranschreiten wollen, dann ist eine bessere Schulbildung der Schlüssel dazu. Solange wir ein Bildungssystem haben, das die persönliche Entwicklung unserer Schüler vernachlässigt, wird Fortschritt unmöglich sein. Aber was können wir tun, um ein so großes Problem zu lösen? Wir müssen weiterhin versuchen, diese Frage durch das wissenschaftliche Studium von Bildung und Gesellschaft zu beantworten.