Leben mit Autismus in einer Welt, die Neurodiversität nicht versteht

Die Diagnose wird immer häufiger im Erwachsenenalter gestellt, vor allem bei Frauen. Neurodiversität ist Teil unserer Gesellschaft und es ist an der Zeit, sie sichtbar zu machen.
Leben mit Autismus in einer Welt, die Neurodiversität nicht versteht
Valeria Sabater

Geschrieben und geprüft von der Psychologin Valeria Sabater.

Letzte Aktualisierung: 10. April 2023

Personen im Autismus-Spektrum sind oft sehr geräuschempfindlich, nicht in der Lage, ihren Mitmenschen in die Augen zu sehen und Witze oder Ironie zu verstehen. Das Leben mit Autismus ist nicht einfach, doch noch komplizierter ist es, in einer normierten Gesellschaft zurechtzukommen, die Neurodiversität nicht versteht. 

Der Begriff Neurodiversität kommt zum Einsatz, um Menschen mit Legasthenie, Dyspraxie oder Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) Präsenz zu verleihen, die repräsentativste Gruppe bilden jedoch Personen mit einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS). Diese neurologische Entwicklungsstörung wird immer häufiger diagnostiziert. 

Untersuchungen der University of New South Wales zeigen, dass dieser Anstieg der Diagnosen in der erwachsenen Bevölkerung sehr auffällig ist. Foren und soziale Medien bestätigen anhand von unzähligen Geschichten ebenfalls, dass die Identifizierung von Autismus oft erst spät erfolgt.

Viele beschreiben die Diagnose als die Antwort auf ein ewiges Rätsel. Sie verstehen plötzlich, warum sie so sind und anders als andere handeln. Diese Realität ist in unserer Gesellschaft sehr präsent, wir sprechen jedoch noch immer zu wenig darüber. Es ist an der Zeit, das Narrativ neu zu gestalten und die Welt auch aus der Sicht von Menschen im Spektrum zu betrachten…

Leben mit Autismus in einer Welt, die Neurodiversität nicht versteht
Zwar äußern sich die Symptome einer Autismus-Spektrum-Störung in den meisten Fällen bereits ab einem alter von zwei Jahren, doch trotzdem erfolgt die Diagnose oft erst viel später. 

Mit Autismus in einer neuronormativen Welt leben

Laut Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5 ) ist die Autismus-Spektrum-Störung (ASS) eine neurologische Entwicklungsstörung, die durch Beeinträchtigungen in der Kommunikation und der sozialen Interaktion gekennzeichnet ist. Außerdem zeigen Betroffene ein eingeschränktes und sich wiederholendes Repertoire an Verhaltensweisen, Interessen und Aktivitäten.

Autismus manifestiert sich jedoch auf sehr vielfältige Arten. Wir haben es mit einem Zustand zu tun, der in ein Spektrum fällt, deshalb ist die Variabilität der Merkmale sehr groß. Es gibt schweren Autismus, bei dem manchmal die Kommunikationskompetenzen nicht entwickelt sind. Ferner gibt es auch einen regressiven Autismus, bei dem ein Kind, das bereits kommunikative Fähigkeiten entwickelt hat, aufhört, mit seiner Umwelt zu interagieren.

Ebenso kann man von hochfunktionalem Autismus sprechen, bei dem die Betroffenen trotz einer gewissen geistigen Starrheit voll funktionsfähig sind. Das hindert sie jedoch nicht daran, sich eingeschränkt zu fühlen und Schwierigkeiten zu haben, sich an neuronormative Normen anzupassen.

Die Herausforderung für Familien mit Kindern

Ein Kind mit Autismus kann überwältigend sein. Familien durchlaufen häufig mehrere Phasen. Fast ohne es zu merken, werden sie zu Experten für diese neurologische Entwicklungsstörung und gleichzeitig zu erbitterten Verfechtern ihrer Rechte.

Denn Mutter und Vater eines dieser Kleinen zu sein, bedeutet, zu recherchieren und auch viele Besuche bei Ärzten, Psychologen und in spezialisierten Zentren, Artikel zu lesen und sich mit anderen Familien auszutauschen…

Wenn es etwas gibt, wonach sie sich sehnen, dann ist es, dass die Gesellschaft ihnen Präsenz, Möglichkeiten und Integration bietet und die Welt aus ihrer Sicht sieht. Denn das Kind mit Autismus empfindet seine Realität auf eine andere Art und Weise, und diese Realität kann wertvoller sein, als wir denken.

Leben mit Autismus im Erwachsenenalter

Wir haben am Anfang darüber gesprochen. Es gibt viele Spätdiagnosen; Personen, die sich seit Jahrzehnten anders fühlen. Jahre vergehen, ohne dass sie verstehen, warum bestimmte Situationen sie psychisch erschöpft haben, warum es ihnen schwerfiel, bestimmte Jobs zu behalten oder eine stabile affektive Beziehung zu führen.

Die Diagnose im Erwachsenenalter hat es vielen ermöglicht, die Geschichte ihres Lebens neu zu schreiben, zurückzublicken und viele Erfahrungen neu zu verarbeiten, zu konzeptualisieren und zu heilen. Zu wissen, warum du sie so sind, wie sie sind, ist jedoch keine Lösung, denn das Leben mit Autismus in einer neurotypischen Gesellschaft ist nicht einfach.

  • Angesichts der Zunahme von Diagnosen bei Erwachsenen ist eine viel umfassendere und spezialisierte Unterstützung erforderlich, um Selbstakzeptanz und Wohlbefinden zu fördern. Denn wenn wir über Autismus sprechen, denken wir fast immer an Kinder. Wir vergessen, dass Erwachsene eine große Gruppe von Menschen sind, die ebenfalls Ressourcen und Unterstützung brauchen.
  • Neben der formellen und spezialisierten Unterstützung erfordert das Leben mit Autismus auch informelle Unterstützung durch Familie, Freunde, Arbeitskollegen usw.
Leben mit Autismus
Immer mehr Unternehmen stellen sich auf die Bedürfnisse von Menschen im Autismus-Spektrum ein.

Autismus und die Arbeitswelt

Personen mit Autismus haben Schwierigkeiten, mit Menschen zu interagieren. Außerdem gibt es Einschränkungen bei der Arbeit in Umgebungen mit starken Licht- oder Geräuschreizen. Wir könnten viele Beispiele für die Probleme anführen, denen sie täglich bei der Integration in ein Arbeitsumfeld begegnen.

Das führt dazu, dass viele Menschen jahrelang arbeitslos sind. Wenn sie sich nicht nützlich fühlen und nicht an der Welt um sie herum teilnehmen können, hat das große Auswirkungen auf ihr Selbstwertgefühl und ihr Lebensprojekt. Das Leben mit Autismus in einer neurotypischen Welt lässt sie oft denken, dass mit ihnen etwas nicht stimmt. Dem ist aber nicht so.

Arbeitsumgebungen können an die Eigenschaften von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung angepasst werden. Das geht so weit, dass Unternehmen wie Google oder Microsoft mehr neurodivergente Arbeitskräfte einstellen wollen. Der Grund? Weil sie außergewöhnliche Fähigkeiten haben, sehr gute Arbeit leisten und weil es ein Mechanismus ist, der die Inklusion fördert.

Das Problem liegt nicht in einer autistischen Störung, sondern in uns selbst. Eine Gesellschaft, die noch nicht in der Lage ist, Neurodiversität zu erkennen, zu akzeptieren und sich darauf einzustellen, ist eine Gesellschaft, die sich nicht weiterentwickelt hat.


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  • Scattoni, Maria Luisa et al. “Real-World Experiences in Autistic Adult Diagnostic Services and Post-diagnostic Support and Alignment with Services Guidelines: Results from the ASDEU Study.” Journal of autism and developmental disorders vol. 51,11 (2021): 4129-4146. doi:10.1007/s10803-021-04873-5

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