Kintsugi: Meine emotionalen Narben haben mich stärker gemacht

Kintsugi: Meine emotionalen Narben haben mich stärker gemacht

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2017

Kintsugi ist eine Methode, mit der wir unsere emotionalen Wunden heilen können. Sie wurde durch die gleichnamige alte japanische Kunst inspiriert, zu Bruch gegangene Keramik wieder zu reparieren. Der Schlüssel der Kintsugi-Methode liegt darin, Bruchstellen durch die Verschönerung mit Gold und Silber zu etwas Positivem werden zu lassen – unsere emotionalen Narben sind der beste Beweis für unsere emotionale Stärke.

Doch damit sie zu Narben werden können, müssen die Wunden zuerst verheilen. Diese Wundheilung wird durch unser Verhalten oftmals gestört. Wir wollen, dass der Schmerz sofort nachlässt, aber das macht es auf lange Sicht unmöglich, dass unsere Wunden tatsächlich heilen. Wir wollen, dass unsere Wunden sich schließen, ohne dass erst einmal ein Grind entsteht, ohne dass sich eine Narbe entwickelt, die die Anerkennung des Leids hinterlässt.

Ziehe mein Leid nicht ins Lächerliche

Hör auf, mir zu sagen, dass es nicht so schlimm sei. Sag mir nicht, dass es Menschen gäbe, denen es schlechter ginge als mir. Was weißt du schon von Gefühlen! Du bist überhaupt nicht empathisch, verharmlost mein Leid und schätzt weder mich als Menschen noch meine Reife, dieselbe Reife, die mich davor schützen wird, in die Falle des bequemen und gefälligen Selbstbetrugs zu tappen.

Ich bin ein mutiger Mensch. Du wirst mich nicht dabei beobachten können, wie ich mich selbst betrüge. Ich traue mich, mich meinen Wunden zu stellen, sie heilen zu lassen und meine Narben zu verschönern, denn sie sind der beste Beweis dafür, dass ich noch lebe, dass ich Intensives erlebt habe und dazu bereit bin, auf meinem Weg zu einem weiterhin erfüllten Leben auftauchenden Ängsten die Stirn zu bieten. Ich versichere dir, dass zumindest diese Absicht Früchte tragen wird.

Hinter meinen Narben verbirgt sich auch Stolz, weil ich die Zeit der Narbenbildung dazu genutzt habe, etwas aus meiner Erfahrung zu lernen. Meine Kinder werden meinen Schmerz nicht noch einmal fühlen müssen, meine Freunde werden sich nicht allein und verurteilt fühlen, die Menschen, die ich liebe, werden in mir ein Beispiel dafür sehen, dass man keine Angst vor dem Leben haben muss und dass wir den Schmerz hinter uns lassen können, wenn wir wissen, wie das funktioniert.

Sowohl physische als auch emotionale Schmerzen gehören zum Leben dazu, auch wenn wir nicht gern über sie sprechen. Wir alle haben zweifellos zu irgendeinem Zeitpunkt unseres Lebens Schmerzen empfunden, und wer das verneint, spricht eine schlimme Lüge aus und betrügt sich selbst.

Du hast ganz sicher noch nie Schmerzen gespürt?

Schau mir in die Augen. Schau meine Narben an. Ich bin an der Liebe zerbrochen. Ich habe denselben Schmerz gefühlt wie meine Tochter, habe einen Verlust beweint und habe so oft diesen blöden, sinnlosen Schmerz verflucht. Ich schaue dir in die Augen, bin empathisch und mitfühlend. Ich nehme Anteil daran, was den Menschen, die mir wie du nahestehen, passiert.

Ich bin dazu in der Lage gewesen, die zerbrochenen Teile meiner Seele wieder zusammenzufügen. Ich habe sie alle wieder zusammengesetzt und jedes einzelne von toxischen Gefühlen wie Wut, Groll oder Hass befreit. Nachdem ich am Boden zerstört war, habe ich sie aufgesammelt und wieder geordnet. Das hat mir dabei geholfen, zu verstehen, was passiert war. Verstehe das als ein Sinnbild dafür, was ich aus dem gemacht habe, das mir widerfahren war.

Lebe dein Leben in vollen Zügen, ohne Angst davor zu haben, an etwas zu zerbrechen. Du solltest dir keine Sorgen machen, da unsere Seele, wie unser Körper auch, die Fähigkeit besitzt, sich anzupassen.

Ich habe analysiert, was mir passiert war, und habe dabei versucht, das Erlebte frei von Filtern, Verzerrung und Selbstbetrug zu betrachten. Ich wollte nicht länger an den Schmerz gebunden sein und dafür musste ich eine Wunde öffnen, die mir so wehtat. Ich glaubte, dass die Wunde bereits gereinigt war, aber ich irrte mich. Ich musste sie säubern und währenddessen konnte ich etwas aus dem lernen, was mir zugestoßen war.

Mir wurde klar, dass ich selbst mein strengster Richter war, dass ich durch Liebe und Mitgefühl verstehen musste, was geschehen war. Ich überdachte also  meine voreilig gezogenen Schlüsse, zu denen ich gekommen war, weil mich der Schmerz in die Irre geführt hatte, derselbe Schmerz, der meiner Seele die Luft zum Atmen nahm.

Man will uns davon überzeugen, dass wir glücklich sein müssten, dass es genügend Gründe dafür gäbe, glücklich zu sein, aber niemand spricht darüber, wie wir mit unangenehmen Situationen umgehen sollten, was wir tun können, um unsere emotionalen Wunden zu heilen und wie wir die kleinen und großen Probleme des Alltags meistern.

Verbinde dich mit deiner emotionalen Stärke

Mir ist klar geworden, dass ich mich mit meiner emotionalen Stärke verbinden, lernen musste, Menschen zu analysieren, Entscheidungen zu treffen und mit unschönen Situationen umzugehen. Ich lernte, Distanz zu bewahren, anders zu denken, und das aus einer neuen, konstruktiveren Sichtweise. Zu diesem Zeitpunkt verstand ich, dass Handeln und Mut der wichtigste Antrieb für emotionales Wachstum sind.

Ich habe meinen inneren Dialog analysiert und mir die Fähigkeit angeeignet, unterscheiden zu können, was man verändern kann und was nicht. Ich habe meine Unfähigkeit akzeptiert, gegen das anzukommen, das nicht in meiner Macht steht, aber ich habe all das geändert, was ich beeinflussen konnte. Ich habe damit aufgehört, zu versuchen, Mauern einzureißen, und habe stattdessen nach Türen gesucht. Ich habe meine Angst vor dem Meer abgelegt und habe gelernt, zu schwimmen. Ich habe aufgehört, den Fluss zu verfluchen und habe lieber Brücken gebaut.

Ich habe an mir gearbeitet, nachgedacht und war mutig. Ich habe verstanden, dass mich meine Ängste zwar bremsen, aber nicht besiegen können, und ich am Ende dieses Prozesses in meinen Narben Schönheit erkennen konnte. Diese emotionalen Narben erzählen eine Geschichte über mich, sie erzählen von meiner Stärke, meiner Fähigkeit, aus Leid zu lernen und dem Unglück die Stirn zu bieten. Meinen Narben erinnern mich daran, dass ich zerbrechlich und stark zugleich bin. Wenn ich sie ansehe, sehe ich keinen Schmerz, sondern Stärke und all das, wozu ich in der Lage war.

Wenn ich meinen Narben betrachte, fühle ich mich stärker, sicherer und vielleicht auch glücklicher. Ist das vielleicht das Geheimnis des Glücks?

Lerne aus deinen Narben

Ich bin fest dazu entschlossen, alles zu teilen, was ich gelernt habe. Man muss sich nicht erst verbrennen, um zu verstehen, dass Feuer gefährlich ist. Ich habe das normalisiert, was normal war. Ich habe anderen dabei geholfen, sich nicht seltsam zu fühlen und zu akzeptieren, dass ihr Leid mit den Umständen in jener Zeit tun hat, was lediglich die Menschen verstehen können, die mit ganzem Herzen lieben und leben.

Heute zeige ich meine Narben ganz furchtlos, ohne Schuldgefühle und ohne mich zu schämen. Einige der Unglücke, die ich überwinden musste, waren nichts als reiner Zufall, andere dagegen nicht: Ohne dass es mir bewusst war, habe ich durch getroffene und vermiedene Entscheidungen, durch zu hoch gesteckte Erwartungen oder durch Enttäuschungen, die ich einstecken musste, Leid hervorgerufen.

Das Leben ist wie Keramik: zerbrechlich und schön zugleich. Das Leben kann uns in einem Augenblick in Scherben zerbrechen lassen, aber genauso können wir diese wieder zusammenfügen. Und wenn wir dazu fähig sind, aus Erfahrungen zu lernen, können wir zu schöneren und stärkeren Menschen werden.

Heute bin ich meiner sensiblen Seite treu. Heute erschaffe ich eine neue Realität. Eine Realität, in der Mitgefühl, Empathie und Liebe Urteilen, Stereotypen und Lügen die Luft unter den Flügeln nehmen. Heute bin ich ein Teil dieser neuen Realität, einer Realität, in der ich akzeptieren kann, dass ich gelitten habe und dass meine Seele geweint hat, dass aber keine einzige dieser Tränen umsonst war, weil sie mir alle gemeinsam mit meinen Narben etwas gezeigt haben, woraus ich lernen konnte.

Dank Kintsugi bin ich heute ein stärkerer und selbstsicherer Mensch. Dank Kintsugi schäme ich mich heute nicht mehr für meine Narben, meine Sensibilität, meine Zerbrechlichkeit und Stärke.

Manche Menschen glauben, dass Kintsugi nur eine alte japanische Technik sei, um zerbrochene Keramik zu reparieren, aber sie irren sich. Kintsugi ist viel mehr als nur eine einfache Technik – Kintsugi ist eine Kunst, eine Kunst, mit der wir emotionale Wunden heilen können.

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