Hyperästhesie: Wenn die Sinne überempfindlich reagieren
Stell dir vor, jemand streichelt sanft deine Haut – doch anstatt es als angenehm zu empfinden, fühlt es sich wie ein schmerzhaftes Reiben an. Dein Gehirn reagiert über, verwandelt eine alltägliche, emotionale Geste in Unwohlsein oder sogar Schmerz. Wenn dir diese Erfahrung bekannt vorkommt, könnte es sein, dass du unter Hyperästhesie leidest.
Diese Überempfindlichkeit gegenüber Sinnesreizen kann den Alltag stark beeinträchtigen. Ob Berührungen, Geräusche oder Licht – was für andere harmlos ist, kann für Betroffene unerträglich werden. Dahinter steckt oft eine medizinische Ursache wie periphere Neuropathien, Fibromyalgie oder Angststörungen.
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Was ist Hyperästhesie und welche Formen gibt e s?
Dein Nervensystem verarbeitet rund um die Uhr Reize – Licht, Geräusche, Berührungen. Doch für manche Menschen wird genau das zur Qual. Hyperästhesie beschreibt eine extreme Empfindlichkeit gegenüber normalen Sinneseindrücken.
Die Folgen? Die Arbeit, soziale Kontakte oder auch einfache Alltagsaufgaben werden zur Herausforderung. Das Schlimmste ist oft das Unverständnis des Umfelds. Viele Betroffene fühlen sich isoliert, weil ihre Beschwerden unsichtbar sind. Werfen wir einen Blick auf die häufigsten Formen dieser Wahrnehmungsverzerrung.
Taktile Hyperästhesie: Wenn Berührung zur Qual wird
Kleidung auf der Haut, ein Luftzug im Gesicht oder sogar eine sanfte Umarmung – all das kann sich für Betroffene wie Brennen, Kribbeln oder Stechen anfühlen. Besonders Menschen mit Fibromyalgie oder peripherer Neuropathie leiden unter dieser Form der Überempfindlichkeit.
Laut einer in Perception veröffentlichten Studie erleben viele Patienten mit neurologischen Erkrankungen diese Art von Schmerz. Um die Intensität besser einzuordnen, wird häufig das Glasgow Sensory Questionnaire verwendet.
Hyperakusis: Wenn Geräusche wehtun
Das Summen eines Kühlschranks, ein klingelndes Handy oder Gespräche in der U-Bahn – für Menschen mit Hyperakusis können selbst alltägliche Geräusche unerträglich sein. Viele tragen geräuschunterdrückende Kopfhörer, um sich vor dem akustischen Stress zu schützen.
Ein typisches Beispiel: Jemand erleidet nach einer Kopfverletzung eine gesteigerte Geräuschempfindlichkeit und kann plötzlich keine Musik mehr ertragen, die ihm früher gefallen hat. Auch chronische Migränepatienten oder Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung sind häufig betroffen.
Visuelle Hyperästhesie: Wenn Licht zur Qual wird
Grelles Sonnenlicht oder stundenlanges Starren auf den Bildschirm – das kann jeder als unangenehm empfinden. Doch für Menschen mit visueller Hyperästhesie bedeutet Helligkeit echten Schmerz. Selbst in normalen Lichtverhältnissen leiden sie unter Augenermüdung oder stechenden Schmerzen.
Besonders Migränepatienten kennen dieses Problem: Sie müssen oft selbst in Innenräumen eine Sonnenbrille tragen, weil künstliches Licht ihre Kopfschmerzen verstärkt. Stell dir vor, du betrittst einen Raum mit grellem Neonlicht und spürst sofort ein starkes Unbehagen – genau das erleben viele Betroffene täglich, oft als Folge eines Schädel-Hirn-Traumas oder einer neurologischen Erkrankung.
Olfaktorische Hyperästhesie: Wenn alles zu intensiv riecht
Was für andere kaum wahrnehmbar ist, schlägt dir sofort auf den Magen: ein Hauch von Parfüm, frisch gewaschene Wäsche oder der Geruch von Reinigungsmitteln. Menschen mit olfaktorischer Hyperästhesie nehmen selbst feine Düfte als extrem stark und oft unangenehm wahr.
Diese übersteigerte Geruchsempfindlichkeit kann mit Angstzuständen einhergehen – der Duft bestimmter Stoffe löst Übelkeit oder sogar Panik aus. Ein einfacher Spaziergang durch eine Parfümerie oder eine frisch geputzte Küche kann für Betroffene eine echte Herausforderung sein.
Thermische Hyperästhesie: Wenn Temperatur weh tut
Ein Spritzer kaltes Wasser auf der Haut fühlt sich an wie Nadeln, warme Luft wie brennendes Feuer – für Menschen mit thermischer Hyperästhesie ist Temperatur kein bloßes Empfinden, sondern Schmerz.
Jemand mit diabetischer Neuropathie könnte es kaum ertragen, barfuß über einen leicht warmen Boden zu gehen, während andere nichts Ungewöhnliches spüren. Menschen mit Multipler Sklerose meiden Hitze, weil sie ihre Symptome verstärkt. Für sie kann ein heißer Sommertag den ganzen Körper in einen Ausnahmezustand versetzen.
Die Ursachen für Hyperästhesie?
Eine übersteigerte Sinneswahrnehmung ist keine eigenständige Krankheit, sondern ein Symptom einer zugrunde liegenden Störung. Sie kann durch neurologische Erkrankungen, psychische Belastungen oder sogar als Nebenwirkung einer Chemo- oder Strahlentherapie auftreten. Aber warum reagiert dein Körper plötzlich so empfindlich? Die Antwort liegt in der Verarbeitung sensorischer Reize im Gehirn.
Wenn das Gehirn Reize falsch interpretiert
Bestimmte Hirnregionen wie der Thalamus, der somatosensorische Kortex oder das limbische System entscheiden darüber, wie intensiv du Reize wahrnimmst. Ist ihre Funktion gestört, können selbst harmlose Berührungen oder Geräusche als übermäßig stark oder schmerzhaft empfunden werden.
Das passiert oft nach einer Kopfverletzung – plötzlich wird Licht zur Qual oder die eigene Kleidung fühlt sich unangenehm an. Auch bei Krankheiten wie Parkinson ist dieses Phänomen bekannt. Forschungen zeigen, dass hier eine Fehlfunktion des Dopamins die Schmerzverarbeitung im Gehirn verändert und zu extremer Empfindlichkeit führt.
Wenn das Nervensystem falsche Signale sendet
Dein peripheres Nervensystem leitet Sinneseindrücke von Haut und Organen ans Gehirn weiter. Aber was, wenn diese Signale fehlerhaft sind? Menschen mit diabetischer Neuropathie kennen das nur zu gut: Schon die Berührung eines Lakens kann sich anfühlen wie Nadeln auf der Haut.
Auch Autoimmunerkrankungen wie das Guillain-Barré-Syndrom oder die Trigeminusneuralgie können Hyperästhesie auslösen. Durch Nervenschäden werden Reize übertrieben verstärkt – ein harmloser Luftzug kann plötzlich schmerzhaft sein.
Wenn Stress und Traumata deine Sinne schärfen
Hast du schon einmal bemerkt, dass du in stressigen Zeiten empfindlicher auf Geräusche oder Berührungen reagierst? Angst und Trauma versetzen dein Nervensystem in einen ständigen Alarmzustand – und verstärken dabei auch deine Sinneswahrnehmung.
Studien zeigen, dass Menschen mit posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) oft eine erhöhte Schmerzempfindlichkeit haben. Ihr Gehirn bleibt in einem Zustand der Hypervigilanz, wodurch selbst alltägliche Reize überwältigend wirken können. Eine Studie der University of Texas beschreibt, dass Menschen, die beispielsweise Missbrauch erlebt haben, grundsätzlich eine höhere Schmerzempfindlichkeit aufweisen.
Auch Depressionen können Hyperästhesie verstärken: Ein Ungleichgewicht von Neurotransmittern wie Serotonin und Dopamin beeinflusst nicht nur die Stimmung, sondern auch die Art, wie du Sinneseindrücke wahrnimmst.
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